Bürgerservicestelle und Think Tank: "Für die Vielen" zeigt die mannigfaltigen Aufgaben der Arbeiterkammer.

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Eine Hacklerin schwingt sich in der nahen Zukunft in 45 Sekunden von einer Entrechteten zur Widerstandskämpferin auf. Sie wird verurteilt, landet im Gefängnis, am Ende tritt sie jedoch – als die "Gerechtigkeit" in Person – gegen eine Armee aus Robotern an, die direkt aus Paul Verhoevens Science-Fiction-Kriegsfilm Starship Troopers stammen könnten. Bange wird ihr nicht dabei, denn sie sei nicht allein. Sie fühlt sich sicher im Kollektiv Gleichgesinnter.

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Für ihr 2020 begangenes 100-Jahr-Jubiläum hat die Arbeiterkammer nämlichen Werbespot produziert, in dem sie ihre Rolle als Beratungsinstanz mit einer vielleicht etwas zu bemüht heutigen Ästhetik unterstreicht. In dem Dokumentarfilm Für die Vielen ist man bei der Präsentation des Spots in der Managementetage mit dabei. Die Runde sitzt erwartungsvoll beisammen, die ersten Reaktionen sind durchwegs positiv, auch wenn man auf dem ein oder anderen Gesicht eine leichte Irritation erkennen kann.

Es ist eine erste Schlüsselszene in Constantin Wulffs Porträt der Arbeitnehmervertretung; Schlüsselszene deshalb, weil sie gleich einmal sein Verfahren offen legt. Der Direct-Cinema-Tradition folgend, richtet sich die Kamera in Für die Vielen ausschließlich auf Szenen vorgefundener Realität, auf Interviews oder Begleitkommentar wird durchgehend verzichtet.

Konzentrierter Blick auf Alltag

Wulff spricht im STANDARD-Interview von einem "konzentrierten Blick auf den Alltag der Institution." Die Präsentation des Werbespots ist dafür eine ideale Szene, weil sie zugleich davon erzählt, wie eine Organisation um ein zeitgemäßes Selbstbild ringt. "Die beobachtende Methode funktioniert dann besonders gut, wenn eine Institution über sich selber nachdenkt und das auch verbalisieren und darstellen muss." Tun und Reflexion über das eigene Tun, das geht hier mithin ständig ineinander über.

Wulffs eigener Impetus für den Film wurzelte aber noch konkreter in einem Unbehagen über die politische Gegenwart. Nach einem Film über die Semmelweis-Klinik (In die Welt, 2008) und eine Jugendpsychiatrie in Tulln (Wie die anderen, 2015) wollte er eine politische Institution behandeln, deren "Nutzen und Notwendigkeit" er in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr gebührend gewürdigt sieht. Während der Kurz-Strache-Regierung war er nicht der Einzige, dem der Eindruck einer systematischen Delegitimierung von demokratischen Institutionen übel aufgestoßen ist. "Mir fiel dabei auf, dass die öffentliche Kritik an dieser Politik mehr aus der Zivilgesellschaft kam – und nicht so sehr aus den Reihen der Opposition."

Kritik der Neos

Auf eine von den Neos vorgebrachte Kritik, dass sein Film mit Steuergeldern finanziert wurde, reagiert Wulff befremdet: "Das ist eine parteipolitische Lektüre des Films. Sie engt den Blick natürlich ein und hat mit dem konkreten Film nichts mehr zu tun." Und: Man habe der Institution von Anfang klargemacht, dass es kein Mitspracherecht gebe und die künstlerische Unabhängigkeit auch vertraglich vereinbart.

Für die Vielen ist tatsächlich deshalb so lohnend, weil der Film keiner geradlinigen Argumentation folgt, sondern ein Bündel an Einsichten in die Institution ermöglicht. Heroisierend wie im Werbespot ist da nichts: Die Szenen rund um Serviceangebote in Arbeitsrechtsfragen liefern Einblicke in prekäre Beschäftigungsverhältnisse und öffnen zugleich ein gesellschaftliches Panorama. Eine Putzkraft, die ohne Vorwarnung mit einer drohenden Kündigung konfrontiert ist, trifft auf einen Angestellten, der um seinen 100.000-Euro-Jahresvertrag fürchtet.

Das Ganze im Blick

Wulff hat aber nicht nur diese Ebene der Nöte von Arbeitnehmern im Blick, sondern auch das größere Feld der Aufbereitung politischer Sachfragen. Die Montage wechselt geschickt von Angeboten wie einer Veranstaltung für die Jugend zu einer Vernissage, bleibt aber auf das korrespondierende Ganze fokussiert. Ein Besuch des Starökonomen Thomas Piketty wird in Etappen umgesetzt, zuerst als Briefing seiner zentralen Thesen, danach als Dialog mit diesem selbst.

Die Arbeiterkammer verfüge über einen direkten Draht zum Arbeitsalltag, sagt Wulff, hier würde Wissen akkumuliert, das über den Dialog mit Experten wiederum an Parteien zurückfließt. Der Ausbruch der Corona-Pandemie, die unvorbereitet in den Film sickert, scheint diesen Work-Flow dann mit einem Mal zu unterbrechen. Der erste Lockdown wirkt wie eine real gewordene Dystopie; leere Gänge, verwaiste Büros, die vormalige Geschäftigkeit wie weggewischt.

Corona-Verwerfungen

Auch der Dreh musste sich anpassen: Pläne wurden umgeworfen, man musste sich überlegen, was überhaupt noch sichtbar ist. "Wir konnten das, was vor der Kamera geschieht, noch gar nicht durchdringen – das ging oft erst in der Montage, wenn in der Reflexion eine nachträgliche Sinngebung passierte." Umgekehrt verschaffte die Pandemie der Arbeiterkammer einen Bedeutungsschub: "In der Krise war die Politik sehr dankbar, auf Expertise zurückgreifen zu können."

Zu welchen Verwerfungen am Arbeitsmarkt Corona führte, legt der Film mit dem Hygiene Austria Skandal um die umetikettierten Masken dann anschaulich dar. Für Wulff eine maßgebliche Szene, weil sie zeige, wie sich Ausbeutung, ökonomische Kriminalität und Rassismus verbindet. Und ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig ein Gegenüber in solchen verschärften Situationen ist. (Dominik Kamalzadeh, 21. 9. 2022)