Das Bild stammt aus Kosatscha Lopan in der Region Charkiw.

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Kiew/Moskau – Angesichts der ukrainischen Gegenoffensive forciert die russische Regierung in den besetzten Gebieten in der Ukraine "Referenden" über einen Beitritt zu Russland. Die pro-russischen Separatisten in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk kündigten am Dienstag Volksbefragungen ab Freitag an. Auch in der von Russland gehaltenen südukrainischen Region Cherson sowie in der umkämpften Region Saporischschja, wo das größte ukrainische Atomkraftwerk liegt, wurden "Referenden" angekündigt.

Die Scheinreferenden, die weder von der Ukraine noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, sollen laut Behörden vom 23. bis 27. September in den von Russland anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine sowie in den umkämpften Gebieten Cherson im Süden und der Region Saporischschja stattfinden. Saporischschja soll die "Abstimmung" nur in den von Russland kontrollierten Gebieten stattfinden, so der Chef der Militärverwaltung, Wladimir Rogow, am Dienstag.

In Saporischschja kontrollieren die Besatzungstruppen 75 Prozent des Territoriums. Die Gebietshauptstadt Saporischschja mit vor dem Krieg rund 700.000 Einwohnern hingegen steht immer noch unter Kontrolle ukrainischer Truppen. Aus Sicherheitsgründen werde in der Stadt nicht abgestimmt – nicht einmal online, sagte Rogow.

Ukraine: "Pseudoreferenden"

Die Ukraine reagierte gelassen auf die von Russland und den russischen Besatzungsbehörden angekündigten "Referenden". "Weder die Pseudoreferenden noch die hybride Mobilmachung werden etwas ändern", schrieb Außenminister Dmytro Kuleba am Dienstag beim Kurznachrichtendienst Twitter. Die Ukraine werde weiter ihr Gebiet befreien, egal, was in Russland gesagt werde.

Das ukrainische Verteidigungsministerium verglich die Vorgänge mit dem Anschluss von Österreich an Nazi-Deutschland 1938. "Sie erwarten die Ergebnisse von 1938. Anstatt dessen werden sie Hitlers Ergebnis von 1945 bekommen", so das Ministerium bei Twitter. Der von Diktator Adolf Hitler begonnene Zweite Weltkrieg endete damals mit der Kapitulation Deutschlands.

Zugleich kündigte Kiew an, alle Organisatoren der Scheinreferenden strafrechtlich zu verfolgen. "Die zuständigen Organe der Ukraine werden nach ihnen fahnden und sie zur Verantwortung ziehen", teilte das Außenministerium am Dienstag in einer Erklärung mit.

Auch internationale Kritik an "Referenden"

International kam massive Kritik an dem Vorgehen Russlands. "Wir werden dieses Gebiet niemals als etwas anderes als einen Teil der Ukraine anerkennen", sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, in Washington. "Wir wissen, dass diese Referenden manipuliert werden. Wir wissen, dass Russland diese Scheinreferenden als Grundlage für die angebliche Annexion dieser Gebiete entweder jetzt oder in Zukunft nutzen wird", hieß es aus dem Weißen Haus.

Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach den angekündigten "Abstimmungen" die Legitimität ab und wertete die "Referenden" auf Twitter als eine "weitere Eskalation von Putins Krieg".

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte die "Abstimmungen" als klaren Verstoß gegen die UN-Charta. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte sie für völkerrechtswidrig. Der französische Präsidente Emmanuel Macron bezeichnete die Idee eines solchen "Referendums" im Donbass als "zynisch" und eine "Provokation". Auch die OSZE verurteilte die Pläne.

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sagte: "Derartige Abstimmungen haben keinerlei Legitimität. Die Ergebnisse werden von uns selbstverständlich nicht anerkannt, ebenso wenig wie von unseren europäischen Partnern."

"Derartige Versuche der Russifizierung sind ein weiterer, schwerwiegender Angriff auf die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine und aufs Schärfste zu verurteilen", hielt Schallenberg weiter fest.

Medwedew: "Unumkehrbarer Charakter"

Die "Referenden" gelten als Reaktion auf die ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes. Auf ähnliche Weise hatte Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. International wurde die Abstimmung nicht anerkannt. Auch diesmal ist eine Anerkennung nicht in Sicht.

Die von Moskau eingesetzte Besatzungsverwaltung appellierte am Dienstag an Präsident Wladimir Putin. Der Kremlchef solle einen Beitritt der Region zu Russland unterstützen, schrieb Verwaltungschef Wladimir Saldo auf Telegram. Er sprach von einer "Entscheidung der Bürger des Gebiets Cherson für Selbstbestimmung und den Beitritt zur Russischen Föderation".

Zuvor hatte der Vize-Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates und enge Putin-Vertraute, Dmitri Medwedew, Beitrittsreferenden in den von Moskau besetzten Gebieten in der Ukraine gefordert, um diese unwiderruflich an Russland anzugliedern. "Nach ihrer Durchführung und der Aufnahme der neuen Territorien in den Bestand Russlands nimmt die geopolitische Transformation in der Welt unumkehrbaren Charakter an", schrieb er am Dienstag auf seinem Telegram-Kanal.

Russland könne nach dem Beitritt der Gebiete "alle Mittel des Selbstschutzes" anwenden. Russische Kommentatoren wiesen darauf hin, dass das Atomwaffen einschließe. Der russische Politologin Tatjana Stanowaja meinte, dass Putin sich nach dem Scheitern seiner ursprünglichen Pläne, die Gebiete rasch einzunehmen, zu den "Beitrittsreferenden" entschieden habe. Nach Aufnahme der Gebiete habe er die Möglichkeit, die Territorien unter Androhung des Einsatzes von Atomwaffen zu verteidigen.

Russische Rückschläge zuletzt

Die Separatisten in Donezk und Luhansk hatten angesichts des jüngsten ukrainischen Vormarsches gefordert, solche "Abstimmungen" schnell anzusetzen. Russland hat seinen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar unter anderem mit der "Befreiung" der Gebiete Donezk und Luhansk begründet. Zunächst konnte das russische Militär große Teile der Ost- und Südukraine erobern.

Zuletzt allerdings musste der Kreml eine empfindliche Niederlage hinnehmen, die russischen Truppen zogen sich nach ukrainischen Angriffen fast völlig aus dem Gebiet Charkiw zurück. Die Staatspropaganda warnte vor einer möglichen verheerenden Niederlage in dem Krieg.

Putin selbst wollte am Dienstag um 19 Uhr eigentlich eine "dringliche Ansprache" im Hinblick auf die Referenden halten. Diese fand aber bis zum späten Dienstagabend nicht statt und dürfte laut Medienberichten auf Mittwoch verschoben worden sein.

Russland verschärft Kriegs-Strafrecht

Der Kreml könnte nun darauf setzen, mit den "Referenden" innenpolitisch die Bevölkerung mobilisieren zu können – eventuell sogar durch Ausrufung des Verteidigungsfalls. Derzeit leidet das russische Militär in der Ukraine an Personalmangel. Die eingesetzten Soldaten auf Vertragsbasis haben nicht genügend Ressourcen für den Krieg, der in Moskau immer noch "militärische Spezialoperation" genannt wird.

Eine mögliche Vorbereitung auf eine Verhängung des Kriegsrechts und eine Mobilmachung unternahm am Dienstag das russische Parlament. In Eilverfahren wurden Gesetzesänderungen beschlossen, dass Zeiten der "Mobilmachung" und des "Kriegszustandes" besonders anfällig seien für Verbrechen. Verschärft wurde unter anderem in zweiter und in letzter Lesung das Strafrecht, wonach etwa die Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen deutlich erhöht werden. Putin hatte angesichts des Krieges in der Ukraine gesagt, dass Moskau dort noch nicht einmal richtig angefangen habe.

Mobilmachung in Belarus

Im mit Russland verbündeten Belarus ordnete Machthaber Alexander Lukaschenko unterdessen eine Mobilmachung aller Sicherheitsorgane und eine weitere Verschärfung der Gesetze an. "Wenn wir eine Militäreinheit nach den Kriegsgesetzen in Alarmzustand versetzen müssen, dann müssen wir das tun", sagte Lukaschenko laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta am Dienstag bei einem Treffen mit dem Sekretär des nationalen Sicherheitsrats Alexander Wolfowitsch. (APA, red, 20.9.2022)