Im April 1957 gab es die erste Massenschutzimpfung gegen Polio. Sie galt bis vor kurzem noch in vielen Ländern bereits als ausgerottet.

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Im Juli litt ein Mann im Bundesstaat New York plötzlich an Lähmungen der Beine sowie Fieber, Nackensteife, Rückenschmerzen und Übelkeit – alles Hinweise auf die als Poliomyelitis bezeichnete Krankheit, die später bei ihm nachgewiesen wurde. Fachleute waren verwundert, der amerikanische Kontinent war seit 1994 poliofrei. Normalerweise lassen sich vereinzelte Fälle der Kinderlähmung immer auf Reisen in Länder, in denen das Virus verbreitet ist, zurückführen. Dieser Mann aber war zuvor nicht im Ausland gewesen. Wenig später wurden auch in New Yorks Abwasser Polioviren entdeckt. Vergangene Woche setzte die WHO die USA auf die Liste jener Länder, in denen das Virus zirkuliert.

Und auch an anderen Orten, an denen Polio als ausgerottet galt, hat man Ähnliches beobachtet: Bereits im März gab es in Israel einen Fall von Kinderlähmung bei einem dreijährigen Mädchen. Im Sommer meldeten Londoner Behörden, dass in Abwasserproben erstmals seit den 1980er-Jahren Polioviren entdeckt worden waren. Die Infektiologin Monika Redlberger-Fritz von der Med-Uni Wien weiß: "Man war ganz knapp davor, das Virus weltweit auszurotten. Leider zirkulierte es in Ländern wie Pakistan und Afghanistan auch in den letzten Jahren immer noch."

Selten tödliche Verläufe und anhaltende Lähmungen

Übertragen wird das Virus hauptsächlich über kontaminierte Fäkalien, also etwa über Schmierinfektion oder verunreinigtes Wasser. Bei den meisten Menschen verlaufen Infektionen laut Fachleuten zwar asymptomatisch, aber auch asymptomatische Erkrankungen stellen eine Gefahr dar. Wer gegen Polio geimpft ist, kann zwar selbst nicht erkranken, aber andere anstecken.

Eine Ansteckung kann in seltenen Fällen, bei etwa einem Prozent aller Infizierten, zu anhaltenden Lähmungen führen. Betreffen diese Lähmungen auch den Atmungsapparat, kann eine Infektion sogar tödlich verlaufen. Heilungsmöglichkeiten gibt es keine.

Immer weniger Menschen geimpft

Wie weit das Virus heute noch verbreitet ist, lässt sich nur schwer abschätzen, weil meist nur schwere Verläufe erfasst werden. Den Wildtyp des Poliovirus gibt es nur noch in wenigen Ländern, etwa Afghanistan und Pakistan. Vereinzelt wurde es unlängst auch in Mosambik und Malawi nachgewiesen. Dass das Virus mittlerweile kaum noch verbreitet ist, liegt an einem breiten Impfprogramm der WHO, das weltweit seit 1988 läuft.

Aber die Impfbereitschaft ist im Laufe der Pandemie in vielen Ländern zurückgegangen. Das beobachtet man auch hierzulande: In Österreich sind die Durchimpfungsraten bei sämtlichen Kinderimpfungen – wie etwa auch die in der Sechsfachimpfung enthaltene Polio-Impfung – deutlich gesunken. "Es ist besonders wichtig, dass die Kinder ihre Grundimmunisierung bekommen. Sobald eine Grundimmunisierung erfolgt ist, ist es zwar möglich, in späterer Folge ganz mild zu erkranken, aber es kommt nicht zu den befürchteten Lähmungserscheinungen," weiß die Expertin.

Wer in der Kindheit gegen Polio geimpft worden ist, hat zwar keine andauernde Immunität, aber: "Alle die bereits 50 Jahre und älter sind, wurden vermutlich in der Vergangenheit oft genug geimpft und haben eine sehr gute Immunität gegen das Virus." Auch jeder, der in der Kindheit eine Grundimmunisierung bekommen hat, braucht nicht zwangsläufig eine Auffrischung. "Wenn wir jedoch sehen, dass das Virus weiter zirkuliert und auch bis zu uns gelangt, wird vermutlich darüber nachgedacht, ob eine Auffrischungsimpfung für alle sinnvoll wäre", ergänzt Redlberger-Fritz.

Lebendimpfstoffe können zurückmutieren

Neben fehlenden Impfungen gibt es einen weiteren möglichen Aspekt, warum Polioviren wieder vermehrt zirkulieren: Um Kosten zu sparen, wird in manchen Ländern ein Lebendimpfstoff verabreicht. Das kann in seltenen Fällen dazu führen, dass das Virus im Lebendimpfstoff mutiert und weitergegeben wird. Bei einem Totimpfstoff ist das nicht möglich. Die Expertin weiß: "Beim Polio-Lebendimpfstoff handelt es sich um eine Schluckimpfung. Diese ist vor allem in nichtindustrialisierten Ländern ein riesiger Vorteil. Sie muss nicht gekühlt werden und hinterlässt eine sehr gute Immunität." Aber diese Lebendimpfung kann – da es sich um eine abgeschwächte Form des Poliovirus handelt – auch wieder in seine Wildform zurückmutieren. "Menschen, die nicht immun sind, können sich dann mit diesem Virus anstecken."

Doch auch geimpfte Personen können sich mit diesem Virus infizieren. Der Grund: "Bei uns wird schon länger der Totimpfstoff verwendet. Er hinterlässt zwar eine gute Immunität, aber anstecken kann man sich trotzdem: Man bekommt dann zwar keine Symptome und bemerkt gar nicht, dass man infiziert ist. Dennoch kann das Virus weitergeben werden", sagt die Infektiologin.

Genau das scheint in London und New York der Fall gewesen zu sein, glauben Fachleute. Die Laboranalysen der Abwasser zeigen, dass es sich bei den detektierten Viren um solche impfstoffabgeleiteten Viren handelt. Redlberger-Fritz sagt: "Das Virus zirkuliert dort in der Bevölkerung, ohne dass es groß bemerkt wird. In Ländern mit einer hohen Durchimpfungsrate bemerkt man die Krankheit klinisch so gut wie gar nicht, da die meisten Fälle symptomlos verlaufen." Sie stellen aber eine Gefahr für all jene dar, die nicht geimpft sind. Die USA und Großbritannien forcieren daher nun wieder Polio-Impfkampagnen für Kinder. Denn: Je mehr Menschen nicht geimpft sind, desto besser können sich die Viren verbreiten und mutieren. (poem, jaa, 21.9.2022)