Wladimir Putin hielt Mittwochfrüh seine mit Spannung erwartete Rede.

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Knapp sieben Monate nach Beginn des Ukraine-Kriegs hat Russlands Präsident Wladimir Putin wohl auch aufgrund der ukrainischen Gegenoffensive eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Er habe diese Entscheidung nach einem Vorschlag des Verteidigungsministeriums getroffen und das Dekret unterschrieben, sagte der Kreml-Chef in einer Fernsehansprache am Mittwoch.

Die Rede war eigentlich bereits für Dienstagabend angekündigt, wurde letzten Endes aber aus nicht genannten Gründen verschoben. Die Teilmobilmachung beginne jedenfalls noch am Mittwoch. Laut Verteidigungsminister Sergej Schoigu werden 300.000 Menschen für das Militär teilmobilisiert. Zugleich äußerte er sich erstmals seit dem Frühjahr zu russischen Verlusten – und bezifferte sie mit knapp 6000. Unabhängige Beobachter gehen allerdings von deutlich höheren Zahlen aus.

VIDEO: Der russische Präsident Wladimir Putin hat eine "Teilmobilmachung" der Russen im wehrfähigen Alter angekündigt. Ein entsprechender Erlass sei bereits unterzeichnet worden und trete noch am Mittwoch in Kraft
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Die Teilmobilmachung bedeutet nach Putins Worten, dass kampferprobte Reservisten eingezogen werden. Sie würden den gleichen Status und die gleiche Bezahlung bekommen wie die jetzigen Vertragssoldaten und auch vor dem Fronteinsatz noch einmal militärisch geschult, versicherte er. Insgesamt gebe es 25 Millionen Reservisten in Russland. Mit der Teilmobilmachung sollen vor allem die Personalprobleme an der Front gelöst werden, heißt es aus Moskau.

Russland werde alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, sagte Putin – bezieht sich damit aber laut allen völkerrechtlichen Interpretationen auf Territorium, das rechtmäßig der Ukraine gehört. Er warnte zugleich vor einer "Erpressung" seines Landes mit Atomwaffen. "Diejenigen, die versuchen, uns mit Atomwaffen zu erpressen, sollten wissen, dass die Kompassrose sich in ihre Richtung drehen kann." Dabei war es Putin selbst, der zu Beginn des Angriffskriegs Russlands strategisches Nukleararsenal in erhöhte Bereitschaft versetzen ließ, um die Ukraine und den Westen damit zu bedrohen.

Putin: "Kein Bluff"

An den Westen gerichtet sagte Putin: "Wir haben viele Waffen, um zu antworten. Das ist kein Bluff. (...) Wir werden alle Ressourcen nutzen, um unsere Leute zu verteidigen." Und weiter: "Der Westen will unser Land zerstören. Der Westen wollte keinen Frieden zwischen der Ukraine und Russland." Es sei "unsere historische Tradition, diejenigen zu stoppen, die nach der Weltherrschaft streben, die unserem Mutterland, unserer Heimat mit Zerstückelung und Unterdrückung drohen".

Auf eine Generalmobilmachung dürfte Putin vorerst wohl auch aufgrund des drohenden innenpolitischen Drucks verzichtet haben. Expertinnen und Experten hatten aber bereits vor Putins Rede Zweifel geäußert, ob Russland überhaupt imstande sei, eine solche organisatorisch zu bewerkstelligen. Die von vielen erwartete Ausrufung des Kriegszustands, wie sie eine Mobilmachung eigentlich bedingen würde, fehlte zumindest in Putins Rede. Ob sie im Dekret zu finden ist, ist noch unklar.

Eine Militärübung russischer Soldaten Anfang September im ostrussischen Ussuriysk. In Russland werden nun deutlich mehr russische Soldaten in den Krieg gegen die Ukraine einberufen.
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Die angekündigte Teilmobilmachung zeigt nach Worten des ukrainischen Präsidentenberaters Mychailo Podoljak, dass der Krieg für Russland nicht nach Plan laufe. Der Schritt sei zu erwarten gewesen. Die anderen Äußerungen des russischen Präsidenten seien rhetorischer Natur, sagte Podoljak. Ziel sei es, den Westen für den Krieg und die sich verschlechternde Wirtschaftslage in Russland verantwortlich zu machen.

Scheinreferenden in vier Regionen

In seiner Rede kündigte Putin zudem die mögliche Annexion ukrainischer Gebiete mithilfe der Referenden in den besetzten Regionen an. "Die Entscheidung, die die Mehrheit der Bürger in den Volksrepubliken Luhansk und Donezk, in den Gebieten Cherson und Saporischschja treffen, unterstützen wir", sagte Putin.

Neben den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine wollen auch die von Russland besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja im Süden über einen Beitritt zu Russland abstimmen lassen. Die Scheinreferenden sollen vom 23. bis 27. September abgehalten werden. Sie gelten als Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist nicht möglich.

Warnung aus Kiew

Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Scheinreferenden hat die Führung in Kiew ihre Landsleute vor einer Abstimmung gewarnt. "Jedwede Beteiligung an den 'Referenden' wird als Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine gewertet", schrieb Podoljak noch am Dienstagabend auf Twitter. Zuvor hatte das ukrainische Außenministerium in einer Erklärung bereits die Organisation der Scheinreferenden für strafbar erklärt.

Auch Vizepremierministerin Iryna Wereschtschuk rief dazu auf, die Abstimmung zu ignorieren – "und damit der Armee und sich selbst zu helfen". Wer einen russischen Pass beantrage, müsse mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen, sagte sie im ukrainischen Fernsehen.

Zeichen der Verzweiflung?

Kiew reagierte mit Spott auf die angekündigte Teilmobilmachung, die noch am Mittwoch beginnen soll. Der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, fragte auf Twitter: "Läuft immer noch alles nach Plan oder doch nicht?" Der für "drei Tage" geplante Krieg dauere bereits 210 Tage. Nach Ansicht der EU sind die Ankündigungen ein Zeichen der Verzweiflung Putins. Die Scheinreferenden und die Teilmobilisierung seien "ein weiterer Beweis dafür, dass Putin nicht an Frieden interessiert ist, sondern daran, seinen Angriffskrieg zu eskalieren", so der Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Peter Stano. Auch Selenskyj ist der Meinung, dass die Teilmobilisierung zeige, dass Moskau Probleme mit seinem Militärpersonal habe.

Wie ist Putins "Das ist kein Bluff" gemeint? Er will "mit taktischen Atomwaffen Abschreckungswirkung beim Westen entfalten", sagt Russlandexperte Gerhard Mangott im Interview.
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Zu Putins indirekter Androhung, Atomwaffen einzusetzen, sagte Selenskyj in einem Interview mit der "Bild" (Onlineausgabe): "Ich glaube nicht daran, dass er diese Waffen einsetzen wird. Ich glaube nicht, dass die Welt es zulassen wird, dass er diese Waffen einsetzt." Er räumte aber ein: "Wir können diesem Menschen nicht in den Kopf schauen, es gibt Risiken." Selenskyj betonte, dass man Putins Drohungen in keinem Fall nachgeben dürfe.

Gesetzesänderung verabschiedet

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sieht in der von Russlands Präsidenten Wladimir Putin angekündigten Teilmobilmachung "ein Zeichen der Schwäche und ein Eingeständnis, dass die russische Strategie auf dem Schlachtfeld ganz offensichtlich nicht aufgeht". Gleichzeitig sei es "eine weitere Eskalation, die eine diplomatische Lösung noch weiter in die Ferne rücken lässt", ließ Schallenberg am Mittwoch am Rande der Uno-Generalversammlung in New York mitteilen. Die nuklearen Drohungen, die Putin am Mittwoch "in einer nie dagewesenen Deutlichkeit ausgesprochen hat, sind ein inakzeptables Spiel mit dem Feuer", so Schallenberg weiter.

Russen im wehrpflichtigen Alter drohen jedenfalls bis zu zehn Jahre Haft, wenn sie die Teilnahme an Kampfhandlungen verweigern. Der Föderationsrat in Moskau verabschiedete am Mittwoch eine entsprechende Gesetzesänderung. Zudem wurden die Haftstrafen für das freiwillige Eintreten in Kriegsgefangenschaft und für Plünderungen erhöht. Am Dienstag hatte bereits die erste Kammer des Parlaments, die Duma, im Eilverfahren der Novelle zugestimmt. Nun muss sie noch von Putin unterschrieben werden. (APA, faso, maa, 21.9.2022)