Helm eines frühmittelalterlichen angelsächsischen Fürsten aus Ostengland. Wie stark war im ersten Jahrtausend die Zuwanderung vom Kontinent?

gemeinfrei

Ungefähr dreihundert Jahre nachdem die Römer England verlassen hatten, schrieben angelsächsische Gelehrte wie Beda Venerabilis (672/3–735) über die Angeln und Sachsen und deren Einwanderung nach Großbritannien. Forschende vieler Disziplinen, darunter Archäologen, Historiker, Linguisten und Genetiker, haben seitdem darüber debattiert, welches Ausmaß dieses Migrationsereignis tatsächlich hatte, wie sich die zuwandernden Angelsachsen zusammensetzten und welche Folgen die Migration hatte.

Bisher ging man davon aus, dass die Angelsachsen – ein germanisches Sammelvolk – ab dem 5. Jahrhundert Großbritannien allmählich besiedelten. Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts war die angelsächsische Kultur auf der Insel bereits dominant. Und als sogenannte angelsächsische Periode wird die Zeit britischer Geschichte von etwa 450 bis 1066 angesehen, als schließlich die Normannen das Land eroberten.

75 Prozent Migrationshintergrund

Neue genetische Untersuchungen zeigen nun, dass diese Zuwanderung im Frühmittelalter tatsächlich enorm war: Im genannten Zeitraum dürfte die Bevölkerung in Ost- und Südengland zu etwa 75 Prozent aus Einwandererfamilien bestanden haben, deren Vorfahren aus Kontinentaleuropa stammen, aus an die Nordsee grenzenden Regionen, einschließlich der heutigen Niederlande, Deutschlands und Dänemarks. Diese Familien vermischten sich mit der damals in Großbritannien lebenden Bevölkerung – von Region zu Region und von Gemeinde zu Gemeinde jedoch in unterschiedlichem Maße.

Das ist das Hauptergebnis der bisher umfangreichsten Studie zur Populationsgeschichte im frühen Mittelalter, die ein interdisziplinäres Team von Genetikern und Archäologinnen unter der Leitung des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der University of Central Lancashire am Mittwoch im Fachblatt "Nature" publizierte. Für die Untersuchung sind die Überreste und das Erbgut von über 400 Individuen aus dem damaligen Großbritannien sowie Irland, Deutschland, Dänemark und den Niederlanden analysiert worden.

Frühes angelsächsisches Grab mit Keramikgefäß, Broschen und einem römischen Löffel. Dieses Grab aus Oakington Cambridgeshire beherbergte eine Frau gemischter Abstammung.
Foto: Duncan Sayer

Anhand der Ergebnisse ist es den Forschenden nun gelungen, eine der größten Bevölkerungsumwälzungen der nachrömischen Zeit detailliert zu beschreiben. "Wir haben 278 alte Genome aus England und hunderte aus Kontinentaleuropa analysiert und konnten faszinierende Einblicke in die Bevölkerungsgeschichte und die Geschichte einzelner Menschen aus der Zeit nach dem Zusammenbruch des römischen Reichs gewinnen", sagt Joscha Gretzinger, Erstautor der Studie. "Wir haben jetzt nicht nur eine Vorstellung vom Ausmaß der Migration, sondern auch davon, wie sie Gemeinschaften und Familien beeinflusst hat."

Stammbaum über vier Generationen

Nach ihrer Ankunft vermischten sich die Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung. In einem Fall, einem angelsächsischen Gräberfeld aus Buckland bei Dover, konnten die Forschenden einen Stammbaum über mindestens vier Generationen hinweg rekonstruieren und den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sich zugewanderte und einheimische Personen vermischt hatten. Diese Familie wies ein hohes Maß an Vermischung beider Genpools auf. Insgesamt fanden die Forschenden auf den untersuchten Friedhöfen sowohl einheimische als auch migrantische Elitebestattungen.

Dem 70 Autorinnen und Autoren umfassenden interdisziplinären Team ist es gelungen, archäologische Daten mit den neuen genetischen Erkenntnissen zu verknüpfen. So konnten sie beispielsweise zeigen, dass Frauen mit Migrationshintergrund häufiger mit Grabbeigaben, insbesondere mit Schmuckgegenständen wie Broschen und Perlen, bestattet wurden als Frauen einheimischer Herkunft. Interessanterweise waren Männer, die mit Waffen bestattet waren, etwa gleich häufig migrantischer oder einheimischer Herkunft.

Erhebliche lokale Unterschiede

"Wir entdeckten teilweise erhebliche Unterschiede, wie sich diese Migration auf die Gemeinschaften auswirkte", sagt Duncan Sayer, Archäologe an der University of Central Lancashire und einer der Hauptautoren der Studie. "An einigen Orten sehen wir deutliche Anzeichen für eine aktive Integration zwischen Einheimischen und Einwanderern wie im Fall von Buckland bei Dover oder Oakington in Cambridgeshire. In anderen Fällen jedoch wie in Apple Down in West Sussex wurden Menschen mit eingewanderten und solche mit einheimischen Vorfahren getrennt voneinander auf dem örtlichen Friedhof bestattet. Vielleicht ist dies ein Beleg für eine gewisse soziale Abgrenzung beider Gruppen voneinander an diesem Ort."

Anhand der neuen Daten ist es dem Team außerdem gelungen, die Auswirkungen dieser historischen Migration auf die heutige Zeit zu untersuchen. So stammen nur rund 40 Prozent der DNA heute lebender Engländer von diesen frühen kontinentaleuropäischen Vorfahren ab, während etwa 20 bis 40 Prozent ihres genetischen Erbes möglicherweise aus dem heutigen Frankreich oder Belgien stammen. Die Forschenden vermuten, dass zumindest ein Teil davon auf die normannische Eroberung ab 1066 zurückgeht. Sie könnte aber auch das Ergebnis jahrhundertelanger Mobilität über den Ärmelkanal hinweg gewesen sein. (red, 21.9.2022)