Laut "Art Review" zählt die Kuratorin zu den wichtigsten Personen der Kunstwelt. Ihr Vertrag als Intendantin des Steirischen Herbstes wurde bis 2027 verlängert.

Foto: Marija Kanizaj

Dass der Steirische Herbst 2022 unter dem Thema "Ein Krieg in der Ferne" steht, wurde vor dem Angriff auf die Ukraine festgelegt. Festival-Intendantin Ekaterina Degot gilt als scharfe Kritikerin des Krieges. Ein Gespräch über Boykott, Dissidenten und die Macht der Bilder. Die Videoversion dieses StandArt-Gesprächs finden Sie hier.

STANDARD: Hätte es einen Steirischen Herbst geben können, ohne den Krieg zu reflektieren?

Degot: Nein, für mich steht er im Zentrum von allem. Ich glaube, so wie für Europa.

STANDARD: Kann Kunst hier etwas bewirken?

Degot: Kunst wirkt, aber à la longue. Wenn wir heute auf Werke der letzten Jahrhunderte blicken, scheinen sie prophetisch – sie sprechen noch zu uns. Bilder haben Macht, diese kann auch indirekt sein.

STANDARD: Müssen Kunstfestivals aktuell auf solche Ereignisse in ihrer Nähe reagieren?

Degot: Aus meiner Sicht ja, aber ich verwende das Wort "müssen" eher ungern. Wenn es nur oberflächlich geht, dann besser nicht.

STANDARD: Wurden russische Künstlerinnen zum Steirischen Herbst eingeladen?

Degot: Ja, einige. Ich bin den ukrainischen Künstlern dankbar, dass sie unter diesen Umständen mit mir als Kuratorin und russischen Künstlerinnen arbeiten. Aber nicht alle haben zugesagt, was man respektieren muss. Ich finde es wichtig, kritische Künstler aus Russland zu zeigen. Es ist meine Aufgabe als gebürtige Russin, ihnen eine Stimme zu geben.

STANDARD: Sie selbst haben sich früh gegen den Krieg positioniert. Bekannte Personen aus Russland, die im Westen leben und sich nicht gleich distanziert haben, wurden teils heftig kritisiert. Wie lautet Ihre Meinung zu dem Thema?

Degot: Als Russin denke ich, dass alle Russen, die jetzt im Ausland arbeiten und somit nicht in Gefahr sind, sich gegen diesen Krieg positionieren sollen. Gergiev beispielsweise befindet sich zu nahe am Regime. Ich finde es gerecht, dass er zumindest im Moment nicht im Westen arbeiten kann. (Valery Gerviev wurde im März als Chef der Münchner Philharmoniker entlassen, weil er sich nicht vom Krieg distanzierte, Anm.) Die Meinungen dazu gehen aber stark auseinander.

STANDARD: Sollten bekannte Künstler, die sich nicht eindeutig positionieren, dennoch gezeigt werden bzw. auftreten dürfen?

Degot: Es gibt Menschen, die auf zwei Stühlen sitzen – im Westen und in Russland. Ich bin keine davon. Ich habe Russland schon 2014 verlassen, auch wegen der Krim-Annexion. Aber es gibt Personen – in erster Linie aus der klassischen Musik oder im Sport, den wichtigsten Gebieten für die Macht in Russland –, die sich jetzt entscheiden müssen. So wie sich gerade erst Alla Pugatschowa, vielleicht eine der größten Popsängerinnen Russlands, gegen den Krieg positioniert hat. Warum erst so spät? Wahrscheinlich, weil sie Angst hatte.

STANDARD: Was halten Sie von Boykotten gegen Künstler und Institutionen aus Russland?

Degot: Im Kalten Krieg gab es Dissidenten, die im Westen auf die eine oder andere Weise sehr willkommen waren. Ich hoffe, dass es auch heute wieder dazu kommt. Es gibt unzählige Menschen, die sich entweder noch in Russland oder schon im Ausland befinden und ihrem Heimatland und dem Regime dort sehr kritisch gegenüberstehen. Ich würde also keinen pauschalen Boykott unterstützen. Ich kann es verstehen, wenn das emotional gefordert wird, aber weniger, wenn es aus reiner Strategie geschieht. Ich hoffe, dass individuelle Stimmen gehört werden. Mit Institutionen in Russland hingegen wäre eine Zusammenarbeit aktuell schwierig, das würde ich nicht tun. Ich würde von einer Pause sprechen, das Wort Boykott mag ich nicht. Wir hoffen alle, dass dieser Krieg bald ein Ende nimmt und sich das Regime ändert. Obwohl im Moment nicht klar ist, ob das zum Besseren oder zum Schlechteren geschieht.

STANDARD: Kann es noch schlimmer werden?

Degot: Ja, die Situation hat Russland in den letzten Monaten ideologisch stark verändert. Dort dominierte immer Putin mit seiner Clique an starken Männern. Und jetzt kommt quasi eine Kriegspartei dazu, die Putin fast offen kritisiert und für zu wenig radikal hält. Es mag seltsam klingen, aber das sind Menschen, die eigentlich viel gefährlicher sind als er. Hier entsteht gerade eine ganz neue Kartografie der Macht. Sie ändert sich jeden Tag. (Katharina Rustler, 24.9.2022)