Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Wut entlädt, die sich bei vielen Iranern und Iranerinnen in langen Jahren auf das repressive religiöse System angesammelt hat. Der Tod einer jungen Frau, deren Vergehen in den Augen des Staates es war, sich das Kopftuch nicht so aufzusetzen, wie es angeblich der Islam verlangt, ist in der Tat besonders schwer zu verkraften. Eine Gesellschaft wird über einen Stofffetzen, den die Islamische Republik für die Bekräftigung ihrer Identität braucht, in Geiselhaft gehalten. Außer den zwangsverhüllten Frauen ist ja nichts sichtbar Islamisches an ihr.

Der Tod der Iranerin Mahsa Amina löste eine Welle von Protesten aus.
Foto: AP Photo/Francisco Seco

Die Proteste brachen zuerst in der kurdischen Stadt Saghez aus, woher die 22-jährige Mahsa Amina, Rufname "Jina", stammte. Aber sie griffen schnell auch auf Teheran, Isfahan, Täbriz und andere Städte über. Es ist festzuhalten, dass diese Demonstrationen sich wie fast immer auf jene urbanen Schichten beschränken, in denen das System längst die Hegemonie verloren oder nie besessen hat. Schon öfter in den vergangenen Jahrzehnten hat man angesichts solcher Bilder gedacht, dass die Islamische Republik nicht mehr lange bestehen wird. Mittlerweile ist sie 43 Jahre alt, ernsthaft in Gefahr war sie nie.

Das liegt auch gerade daran, dass zum staatlich verordneten Islam begrifflich die Revolution gehört, die es von außen und von innen zu verteidigen gilt. Die meisten Menschen können das Wort nicht mehr hören. Sie wollen nur halbwegs unbehelligt leben – und haben sich mit Verlogenheit und Korruption abgefunden.

Fassade aufrechterhalten

Den Gucci-Handtaschen der Töchter hoher Mullahs und staatlicher Funktionäre stehen die dicken Autos der Söhne der Teheraner Oberschicht gegenüber, mit denen sie auf Aufriss fahren. Derzeit wird der Fall der Vizepräsidentin für Frauen und Familie, Ensieh Khazali, höhnisch kommentiert, die sich dem Kampf gegen VPNs (Virtual Private Networks) verschrieben hat und deren Sohn in Kanada – erraten! – ein VPN-Unternehmen gegründet hat. Es wäre alles so lächerlich, wenn nicht Menschen wie "Jina" sterben müssten, um eine Fassade aufrechtzuerhalten, hinter der vieles zusammengebrochen ist.

Dass bei Demonstrationen dem höchsten Vertreter des Regimes, Ali Khamenei, der Tod gewünscht wird, ist nichts Neues. Anders ist heute, dass die Übergangszeit – der kranke Ayatollah wird nicht mehr ewig leben – bereits begonnen hat. Viele erwarten, dass Khameneis Abgang institutionelle Veränderungen der Führung bringen wird. Eine kritische Zeit.

Auch wenn sich die systemtreuen Medien völlig hinter die Sittenpolizei stellen, zeigt der Anruf von Präsident Ebrahim Raisi bei der Familie Mahsa Aminis, dass man "oben" alarmiert ist. Die Regierung hatte ja selbst verkündet, dass sie Regelverstöße auf der Straße, die in manchen Stadtvierteln in den vergangenen Jahren fast schon normal geworden sind, schärfer verfolgen werde. Jetzt muss sie klarstellen, dass sie damit nicht freie Hand für Schläger und Sadisten unter der Polizei gemeint hat. Oder zumindest muss sie so tun. (Gudrun Harrer, 21.9.2022)