Kämpfer in der selbsternannten "Volksrepublik" Donezk lauschen der Rede von Wladimir Putin.

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In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin in Sachen Ukraine-Krieg eifrig an der Eskalationsspirale gedreht. Am Mittwoch kündigte der russische Präsident eine Teilmobilisierung der Streitkräfte an, die noch am gleichen Tag beginnen sollte. Bis zu 300.000 Mann, etwa 1,2 Prozent von Russlands potenziellen Reservisten, werden zur Waffe gerufen. Russland werde zudem alle Mittel einsetzen, um seine territoriale Unversehrtheit zu schützen, erklärte der Kreml-Chef. Doch was bedeutet das genau für das Kriegsgeschehen in der Ukraine und die bevorstehenden Scheinreferenden in den russisch besetzten Gebieten?

Frage: Was konkret hat Wladimir Putin verkündet?

Antwort: Putin hält eine Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte für notwendig, um "unser Mutterland, seine Souveränität und territoriale Integrität zu schützen und die Sicherheit unseres Volkes und der Menschen in den befreiten Gebieten zu gewährleisten". Vor wem? Vor "Neonazi-Formationen" und der "gesamten Militärmaschinerie des kollektiven Westens". Das bedeutet seinen Worten zufolge, dass 300.000 der insgesamt 25 Millionen Reservisten eingezogen werden. Diese sollen den gleichen Status und das gleiche Gehalt wie Vertragssoldaten erhalten und vor dem Fronteinsatz in der Ukraine noch einmal militärisch geschult werden.

Frage: Was hat Putin zu diesem Schritt bewogen?

Antwort: Die seit Wochen laufende ukrainische Gegenoffensive hat Moskau unter Druck gesetzt. "Die Erfolge der Ukraine haben das Pendel der Möglichkeiten für die russische Führung in die eskalatorische Richtung ausschlagen lassen", sagt Oberst Berthold Sandtner, Forscher am Institut für höhere militärische Führung der Landesverteidigungsakademie. Auch der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck sagt dem STANDARD, Putin habe mit der Teilmobilmachung "einer militärischen Notwendigkeit nachgegeben, vor der er sich lange gedrückt hat". Die Reihen russischer Truppen seien ausgedünnt, viele gefallen und noch mehr verwundet. Zudem habe sich die Rekrutierung von Freiwilligen und Söldnern als deutlich schwieriger erwiesen als vom Kreml erhofft. Freilich spielten auch die angekündigten Scheinreferenden in den russisch besetzten Gebieten eine Rolle, glauben die Experten. Damit sollen die Gebiete zu russischem Territorium werden. Ukrainische Gegenoffensiven würden laut Mangott aus Sicht Russlands dann eine "neue Qualität erreichen", wenn ukrainische Infanterie plötzlich auf Boden steht, den Russland als russisch ansieht. Bisher gab es ja "nur" ukrainische Angriffe in von Russland beanspruchtem Gebiet.

Frage: Welche militärischen Auswirkungen hat eine Teilmobilmachung?

Antwort: Unmittelbar keine, sagt Sandtner, doch die Ukraine und der Westen stünden nun unter Zugzwang. Auch die ukrainische Seite müsse zusätzliche Soldaten mobilisieren, was sie auch tue. Und sie werde weitere Waffen benötigen, vor allem schwere.

Frage: Militärexperten haben zuletzt logistische Probleme Russlands an der Front hervorgehoben. Werden diese dadurch gelöst?

Antwort: Ganz im Gegenteil. Sie könnten sich sogar noch verschlimmern. "Sie müssen an die Front gebracht, ausgestattet, verpflegt werden, und es muss eine Rotation der Truppenteile möglich sein", sagt Mangott. All dies fordert die russische Logistik zusätzlich heraus.

Frage: Ist das nur eine Vorstufe zu einer Generalmobilmachung?

Antwort: Wohl eher nicht. Russland sei infrastrukturell für eine Generalmobilmachung gar nicht ausgerüstet, glaubt Mangott. "Es wird schwer genug sein, die 300.000 zu mobilisieren", prognostiziert er.

Frage: Welche Auswirkungen hat die Verkündung der Teilmobilmachung für die russische Innenpolitik?

Antwort: Putin habe wohl auch bewusst nur auf eine Teilmobilmachung gesetzt, "um die Schockwirkung für die russische Gesellschaft zu dosieren", so Mangott. Eine Generalmobilmachung für alle Männer zwischen 18 und 59 hätte viele noch mehr verunsichert, als dies ohnehin schon der Fall ist. So oder so hat in Russland ein Ansturm auf Tickets für Auslandsflüge eingesetzt.

Bei Protesten gegen die Teilmobilmachung sind in Russland laut dem Bürgerrechtsportal OVD-Info bis Mittwochabend mehr als 1.000 Menschen in mehreren Städten festgenommen worden.

Die Polizei nahm hunderte Leute fest, die gegen die Teilmobilisierung demonstrierten.
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Frage: Die Ausrufung des Kriegsrechts, wie sie viele erwarteten, fehlte in Putins Rede. Welchen Unterschied würde das machen?

Antwort: Der Kreml braucht rechtlich gesehen nicht zwingend die Verhängung eines Kriegszustands durch das Oberhaus des russischen Parlaments, um zu mobilisieren, erklärt Mangott. Speziell im Fall einer Generalmobilmachung würde er aus organisatorischer Sicht aber vieles erleichtern, so der Experte.

Frage: Putin hat erneut mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Wie realistisch ist dieses Szenario?

Antwort: Putin warnte in seiner Rede vor einer "Erpressung" seines Landes mit Atomwaffen. Die Kompassrose könne sich auch schnell in Richtung des Westens drehen, meinte er sinngemäß. Dabei war es Putin selbst, der zu Beginn des Angriffskriegs Russlands strategisches Nukleararsenal in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen ließ, um der Ukraine und dem Westen zu drohen. Und auch dieses Mal ging Putins Äußerungen über Atomwaffen keinerlei atomare Provokation des Westens voraus. Auffallend und einigermaßen besorgniserregend ist, dass Putin in seiner Rede von der nuklearen Doktrin Russlands abzuweichen scheint, die einen nuklearen Erstschlag eigentlich nur bei einer Gefahr für das Überleben des Staates als Ganzes legitimiert. Putin sprach aber davon, dass Moskau "alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen" werde, sollte die "territoriale Integrität Russlands" gefährdet sein. Sollte eine ukrainische Gegenoffensive Teile der von Russland annektierten Gebiete zurückerobern, könnte man dies theoretisch so interpretieren – aus russischer Sicht wohlgemerkt. Dass Putin jedoch Atomwaffen auf Gebiete abwirft, die er je nach Interpretation befreien oder verteidigen möchte, macht keinen Sinn. Ein atomarer Angriff auf Kiew wäre wohl auch für Wladimir Putin nur die allerletzte Option.

Frage: Wie haben die Ukraine und der Westen auf Putins Ankündigungen reagiert?

Antwort: In einer ersten Reaktion hat Kiew mit Häme reagiert. "Läuft immer noch alles nach Plan, oder doch nicht?", fragte Mychajlo Podoljak, Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, auf Twitter. Im Westen wird der Schritt Moskaus als Zeichen der Schwäche interpretiert. Das Vorgehen lasse sich nur damit erklären, dass der russische Angriff auf die Ukraine nicht erfolgreich verlaufe, sagte der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD). Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace ging noch einen Schritt weiter und erklärte die russische Invasion für "gescheitert": "Noch so viele Drohungen und noch so viel Propaganda können die Tatsache nicht verhehlen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt." Und die US-Botschafterin in Kiew, Bridget Brink, twitterte: "Scheinreferenden und Mobilmachungen sind Zeichen der Schwäche, des russischen Versagens." (Kim Son Hoang, Fabian Sommavilla, 21.9.2022)