Wieder einmal will Wladimir Putin "abstimmen" lassen. Und wieder einmal soll es dabei um die Eingliederung von Teilen der Ukraine in die Russische Föderation gehen. Vergleiche mit dem Jahr 2014 drängen sich auf: Auch damals zog der Kreml-Herr die Fäden, als ein international nicht anerkanntes Referendum den Weg zur Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim ebnete.

Vieles jedoch ist seither anders geworden. Insbesondere die Bemühungen Russlands, den Aggressionen gegen das Nachbarland Ukraine einen völkerrechtskonformen Anstrich zu geben, haben merklich nachgelassen. Die zunehmende Gleichgültigkeit, mit der sich Moskau über internationales Recht hinwegsetzt, kommt einem Teilrückzug auf dem Schlachtfeld der internationalen Propaganda gleich – und ist genau deshalb so gefährlich.

Der russische Präsident Wladimir Putin kämpft längst auch einen Kampf an der Heimatfront.
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Als Putin 2014 nach der Krim griff, konnte er nicht nur der Öffentlichkeit im eigenen Land die Erzählung von einer vermeintlich sauberen und weitgehend unblutigen Vereinigung präsentieren, auf die Russland ein historisches Anrecht hätte. Auch im westlichen Ausland verfingen die Bilder, in denen scheinbar ordnungsgemäße Wahllokale und die berühmten "grünen Männchen" – Soldaten ohne Hoheitsabzeichen – die Hauptrolle spielten. Dass schon die Abhaltung des Referendums mehrere internationale Verträge und letztlich die territoriale Integrität der Ukraine verletzte, konnte man im trüben Wasser der Desinformation leicht übersehen, wenn man wollte.

Mut der Verzweiflung

Heute, mehr als acht Jahre später, stellt sich die Situation aber gänzlich anders dar. In der Ukraine herrscht Krieg – vor allem dort, wo nun Scheinreferenden über einen Anschluss an Russland stattfinden sollen. Dass in den beiden selbsternannten und sogar von Russland erst seit Februar anerkannten "Volksrepubliken" und in zwei weiteren, von Russland massiv attackierten Gebieten seriöse Volksabstimmungen abgehalten werden können, werden wohl nur noch die allerwenigsten nachbeten wollen.

Die Frage ist allerdings, ob Frankreichs Präsident Emmanuel Macron recht hatte, als er am Rande der UN-Vollversammlung in New York in diesem Zusammenhang von Zynismus sprach. Genauso gut könnte es der weit gefährlichere Mut der Verzweiflung sein, der aus Putin spricht. Die militärischen Erfolge der ukrainischen Verteidiger und die steigende Unzufriedenheit im eigenen Land haben Putin dazu gebracht, die Gesichtswahrung im Ausland weitgehend ad acta zu legen. Der russische Präsident kämpft längst auch einen Kampf an der Heimatfront. Den Spieß umzudrehen und die von ihm selbst attackierten Gebiete zu russischem Territorium zu erklären, das "verteidigt" werden müsse, soll ihm dabei helfen, die ungeliebte Teilmobilmachung wenigstens zu Hause ohne Gesichtsverlust zu erklären.

Der Haken an der Sache: Die Scheinreferenden werden fiktive rote Linien ziehen, hinter die Putin nur noch schwer zurückkann. Durch die Mobilisierung erweitert er zwar seinen militärischen Spielraum, schränkt jedoch seine politischen Möglichkeiten weiter ein.

Dass Putin deshalb seine Karten immer offener auf den Tisch legen muss, mag selbst jene seiner Bewunderer irritieren, denen internationales Recht schon bisher egal war. Eine gute Nachricht ist das dennoch nicht. (Gerald Schubert, 21.9.2022)