Die Netflix-Serie "Cyberpunk Edgerunners" treibt die Menschen auch zurück in das Computerspiel.

Foto: Netflix

Der jahrelange Hype um Cyberpunk 2077 hatte mich damals null erreicht. Weder konnte ich mit dem Setting noch mit dem gezeigten Gameplay oder gar Keanu Reeves' Präsenz etwas anfangen. Dementsprechend egal war mir der wohl misslungenste Release der jüngeren Videospielgeschichte im Winter 2020.

Anfang dieses Jahres ließ ich mich dann doch überreden und schlug zu. Nachdem die ersten Patches und Updates schon raus waren, ließ ich mich auf Cyberpunk 2077 ein und war schockverliebt. Selten hatte mich ein Titel so schnell in seinen Bann gezogen. Die Welt faszinierte mich, die Dialoge ließen mich selten die "Überspringen"-Taste drücken, die Geschichte fesselte mich, und die Charaktere wuchsen mir schneller ans Herz, als mir lieb war.

Der technische Zustand von "Cyberpunk 2077" führte 2020 zu viel Ärger und Spott.
Cyberpunk 2077

Ich bemitleidete alle meine Gamingbrüder und -schwestern, die aufgrund fragwürdiger Kommunikation seitens der Entwickler sowie leerer Versprechungen absurd hohe Erwartungshaltungen entwickelt hatten und am Release-Tag bitter enttäuscht waren. Ihnen wurde ein grandioses Spiel versaut.

Doch Cyberpunk 2077 verzeichnet aktuell einen neuen Zustrom an Fans – und das liegt weniger am Spiel, sondern an einer neuen Netflix-Serie.

Große Not verlangt kleinen Anime

Am 13. September 2022 erschien auf Netflix der zehn Episoden umfassende Anime Cyberpunk Edgerunners, dessen Handlung gut ein Jahr vor den Geschehnissen des Videospiels angesiedelt ist. Die Trailer ließen schon erahnen, was die Fans erwarten würde. Schnelle, neongrelle und dreckige Action gemischt mit komplett überzeichneten Gewaltdarstellungen und Fanservice. Liebhaber des Videospiels kommen mit Edgerunners voll auf ihre Kosten. Für gut drei Stunden darf man wieder in die kaputte Welt von Cyberpunk eintauchen. So viel sei an dieser Stelle verraten: Aus der temporeichen Neonlichtextase entwickelt sich nach einigen Folgen ein Sci-Fi-Drama samt moralischen Grauzonen und emotional berührenden Szenen. Abgedreht bleibt es bis zum Ende.

"Edgerunners" versteckt nicht, was es sein möchte, und verbirgt zugleich, was alles in ihm steckt.
Netflix

Doch auch wer gar keine Berührungspunkte mit CD Projekts dystopischem Shooter hat, kann die Serie genießen. Vergleiche mit dem letztjährigen Überraschungserfolg Arcane kommen nicht von irgendwoher. Das spiegelt sich auch in den Spielerzahlen wider.

Willkommen in Night City – schon wieder

Denn spielten im August am PC noch höchstens 16.400 Menschen gleichzeitig Cyberpunk 2077, lassen die Zahlen der letzten Tage den augenscheinlichen Erfolg von Edgerunners schon erahnen. Kurz nach Erscheinen des Anime schossen die Steam-Spielerzahlen nämlich in ungeahnte Höhen. Beinahe 70.000 Menschen schienen nach der Netflix-Serie plötzlich – oder erneut – Lust bekommen zu haben, in die kaputte und dreckige Open World von Cyberpunk 2077 einzutauchen.

Mich bringen solche Neuigkeiten zum Strahlen. Bei all der (berechtigten) Wut seitens enttäuschter Fans wächst in mir seit jeher die Furcht, dass Cyberpunk 2077 als ewige Niederlage in die Annalen der Videospielgeschichte eingeht und die zuständigen Entwicklerteams anderen Projekten zugeteilt werden. Frei nach dem Motto: "Wir haben es vermasselt, lass uns den Ausrutscher schnell vergessen und das ganze Franchise ad acta legen."

Auf dem ersten und womöglich letzten Add-on liegen große Erwartungen.
Cyberpunk 2077

Die Meldung, das am 6. September angekündigte Story-DLC Phantom Liberty würde das erste und zugleich letzte seiner Art werden, verstärkt besagte Sorge. Die großartige Resonanz, die Edgerunners nun erhält – gemeinsam mit steigenden Spielerinnen- und Verkaufszahlen –, könnte die Führungsriege bei CD Projekt allerdings zum Umdenken bewegen.

Eine zweite Chance für ein großartiges Spiel

Mein Verhältnis zur Causa Cyberpunk 2077 ist ambivalent. Einerseits möchte ich CD Projekt auf keinen Fall verteidigen oder gar in Schutz nehmen. Die Art und Weise, wie mit Fans umgegangen wurde – samt Falschaussagen, leeren Versprechungen und dreistester Täuschung –, war und ist absolut letztklassig.

Leider bin ich andererseits ein wahnsinnig großer Fan des Spiels. Ich möchte mehr von diesem Universum sehen, ich giere nach zusätzlichen Inhalten, ich wünsche mir DLCs mit ähnlich viel Umfang wie einst Blood and Wine für The Witcher 3. Und Edgerunners hat mir gezeigt, dass ich offenbar auch nicht mehr in einer Welt ohne Serien und Filme innerhalb dieses Franchise leben möchte. So enttäuschend und augenöffnend der Umgang von CD Projekt mit seinen Fans auch war, so sehr freue ich mich, wenn Cyberpunk Erfolge verzeichnet.

Trotz expliziter Gewaltdarstellungen schlummert in "Cyberpunk 2077" eine mitreißende Geschichte über Verlust.
Foto: CD Projekt

Vor allem da ich der festen Überzeugung bin, dass Cyberpunk 2077 weitaus mehr Menschen erreichen und berühren kann als angenommen. Der missglückte Start des Franchise hängt ihm nur leider bis heute nach. Zu Unrecht. Hinter der Aufregung, den Lügen und enttäuschten Hoffnungen lauert eine hervorragende Gamingerfahrung mit grandioser Story und faszinierend ehrlich geschriebenen Charakteren. Die Kinderkrankheiten wurden ausgemerzt. Es ist zwar immer noch nicht das Produkt, das uns CD Projekt viele Jahre andrehen wollte und versprach; aber es ist ein überdurchschnittlich gutes Videospiel.

Manchmal ist eben ein kleiner Anstoß nötig, um jemandem (oder etwas) eine zweite Chance geben zu können; und vielleicht ist Cyberpunk Edgerunners genau der Schubs, den viele enttäuschte Fans brauchen. (Maximilian Leschanz, 25.9.2022)