Adams Haar wird immer lichter.

Foto: Harry James

In einem Youtube-Video stellt er sich seiner Angst ...

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... und rasiert erstmals seinen kompletten Kopf kahl.

Foto: Harry James

Adam hat sichtlich Angst. Der junge Mann aus Kalifornien steht vor dem Badezimmerspiegel und befühlt sein dünnes schwarzes Haar. "Oh Mann", seufzt er, beugt den Kopf nach vorne und fährt mit seinen Fingern vorsichtig über die kahle runde Stelle auf seinem Hinterkopf. "Ich weiß nicht, ob ihr das sehen könnt", sagt er mehr zu seinem Spiegelbild als zu den unsichtbaren Zuschauern des gut 540.000-mal geklickten Youtube-Videos. "Es ist hier wirklich sehr dünn, an den Seiten und hier." Er atmet kräftig durch und nimmt einen elektrischen Rasierapparat in die Hand. Plötzlich grinst er in die Kamera: "Jetzt gibt es kein Zurück mehr."

Der Brite Harry James betreibt den Youtube-Kanal Baldcafe. In den Videos will er Männern, die unter Haarverlust leiden, einen Teil ihres Selbstbewusstseins zurückgeben.
Foto: Harry James

Einer von vier Männern ist wie Adam bereits in seinen Mittzwanzigern von erblich bedingtem Haarausfall betroffen. Unter den über Fünfzigjährigen ist es sogar jeder zweite. Androgenetische Alopezie, wie man diesen Zustand im Fachjargon nennt, ist ohne Haartransplantation höchstens zu verlangsamen – und das nur mit dem Einsatz von Medikamenten. Wer als Mann seiner genetischen Veranlagung freien Lauf lässt, der verliert nach dem Muster der sogenannten Norwood-Skala beginnend an den Schläfen und am Hinterkopf immer mehr Haar, bis schließlich die Schädeldecke kahl ist.

Das Glatzencafé

Bei den meisten Menschen führt Haarausfall zu einem teils beträchtlichen Leidensdruck. Was Adam vom Großteil seiner Leidensgenossen unterscheidet, ist die Tatsache, dass er freimütig darüber spricht. Eine Plattform für einen solchen Austausch bietet der Brite Harry James, dessen Youtube-Kanal Baldcafe ("Glatzencafé") mehr als 170.000 Abonnenten zählt. James ist selbst überzeugter Glatzenträger und hat es sich quasi zur Lebensaufgabe gemacht, Haarlosigkeit von ihrem negativen Image zu lösen. Er wehrt sich gegen – wie er sagt – "toxische Schönheitsideale" und den Teil der Kosmetikbranche, der unter anderem mit den Haarproblemen von Männern allein im Jahr 2019 rund acht Milliarden US-Dollar verdiente. "Die Haarverlust-Industrie", sagt James, "befeuert die Einstellung, dass die Haare zu verlieren etwas Peinliches, etwas Schambehaftetes ist."

In seinen Clips für Baldcafe deutet der studierte Biologe aus dem englischen Southampton die Glatzenbildung vom Ergebnis ungünstiger Gene zu einer "hair loss journey" um, an deren Anfang die Trennung vom schütteren Haar mittels radikaler Rasur steht. Das Ende der Reise verspricht, so die Theorie, ein positives Körperbild, an dem kein Haar mehr gekrümmt werden kann. In dutzenden Videos lädt James Freiwillige ein, im geschützten Rahmen von ihrem unfreiwilligen Haarverlust zu erzählen und sich im Anschluss vor der Kamera zu rasieren.

Foto: Harry James

Seine Videos haben zusammengezählt Millionen Klicks, doch die meisten Gäste sind nicht zum Spaß im Baldcafe. "Vor allem die Jüngeren haben Angst, nicht mehr attraktiv zu sein", betont James die größte Furcht seiner Abonnenten. Auch wenn sich der 31-Jährige mit seiner Glatze heute "completely fine" fühlt, hat sie auch ihn, als knapp vor der Rasur stehenden 25-Jährigen, schwer beschäftigt. "Der Haarverlust hat mir einen Knacks in meinem Selbstbild verpasst", erzählt er von der Zeit, als er sich im Vorlesungssaal nur noch ganz hinten zu sitzen traute, wo niemand seinen Hinterkopf sehen konnte.

Der Dermatologe Tobias Fischer vom Kepler-Universitätsklinikum Linz kennt diese Ängste seiner Patienten gut. Da seien jene, "die das als familiäres und genetisch bedingtes Schicksal akzeptieren, und die, die relativ stark darunter leiden". Als bewährte und wirksame Medikamente gegen Haarausfall verschreiben Dermatologen häufig das oral einzunehmende Finasterid und das auf die Kopfhaut aufzutragende Minoxidil. In ihrer Wirkung sieht Fischer die beiden Medikamente als "gleichwertige Therapien" an.

Starke Nebenwirkungen

In puncto Nebenwirkungen öffnet Finasterid Tür und Tor zu ganz anderen Männerkomplexen. Finasterid kann bei manchen Patienten zu Libidoverlust, Erektions- und Ejakulationsstörungen führen sowie depressive Verstimmungen verursachen.

Gut zehn Jahre nach der Zulassung Ende der 1990er kamen Berichte von verstärkter Gynäkomastie, einer Knötchenbildung und Vergrößerung der männlichen Brust, dazu. Minoxidil basiert auf einem Medikament gegen Bluthochdruck, hat als Mittel gegen Haarverlust allerdings weniger schwere Nebenwirkungen.

Die Ansprechrate der beiden Medikamente liegt laut Fischer bei 80 bis 90 Prozent. Dafür nehmen hunderttausende Nutzer weltweit gerne ein Risiko in Kauf. Harry James’ Ansatz, die Glatze zu akzeptieren, kennen Ärzte als ‚Krankheits-Coping‘ und darüber hinaus als eine Methode, die nicht für jeden funktioniert. "Das muss man erst mal können", meint Fischer. "Glücklich ist kein Mann, der mit zwanzig oder 25 Jahren merkt, dass er Geheimratsecken entwickelt."

Quelle der Unsicherheit

Mit Minoxidil hat Adam aus dem Youtube-Video endgültig abgeschlossen. Jetzt frisst der Rasierer fünf Zentimeter breite Bahnen durch sein noch verbliebenes Haar. Immer wieder setzt er die Maschine ab, betrachtet sich im Spiegel, wischt und schüttelt Haarbüschel von seinem Kopf. Keine zehn Minuten später ist der Schädel komplett kahl. Adam legt die Maschine aus der Hand, betastet vorsichtig seine Kopfhaut. Mit gerunzelter Stirn blickt er in den Spiegel. "Alright", sagt er, "ich glaube, ich werde ihn wirklich ganz rasieren."

"Rund um den Haarverlust hat sich eine Industrie gebildet, die suggeriert, Glatzen seien peinlich."

Harry James

Wer seinen Kopf gänzlich von Haar befreit, so die Philosophie von Baldcafe-Youtuber Harry James, der konfrontiert sich und sein Umfeld mit der Quelle der eigenen Unsicherheit. "Du musst dich nicht mehr verstecken und erkennst, dass alles total in Ordnung ist", sagt James. In den Monaten nach seiner ersten Rasur zwang sich der Besitzer des Baldcafe, sein schütteres Haar nicht schonungslos niederzumähen, sondern sogar zum gehassten transparenten Flaum zu stehen, der seine Schädeldecke säumt. Diesen Triumph feierte er mit einem Video, in dem er sein "Hufeisen", wie er sein Resthaar bezeichnet, beim Friseur schneiden ließ. "Ich habe so viel über mich gelernt", fasst er die vergangenen Jahre zusammen, "ich habe gelernt, wo mein Selbstbewusstsein liegt."

Teure Transplantation

Auch wenn in absoluten Zahlen Männer weit häufiger betroffen sind, leiden Frauen stärker an den Folgen von Haarausfall. Die Mehrzahl der Patienten, die in Tobias Fischers Haarsprechstunde kommen, ist weiblich. Zahlreiche Studien belegen, dass die psychosozialen Auswirkungen von Haarausfall bei Frauen wesentlich negativer und größer sind. "Für viele Männer ist der Haarverlust ein erster Geschmack der Veränderung", philosophiert Harry James über die Bedeutung der männlichen Glatze. Dabei sind die allermeisten Frauen schon viel früher im Leben mit unrealistischen Schönheitsstandards konfrontiert, "sie trifft es dann viel massiver".

Harry James' Kanal und Podcast "Baldcafe".
Baldcafe

Wer sich aus medizinischer Sicht nachhaltig von der Belastung befreien und auf seinem Kopf wieder Haar sprießen sehen will, der muss je nach Fläche und Qualität im Schnitt 3000 bis 10.000 Euro für eine Haartransplantation zahlen. Dermatologe Fischer empfiehlt die aufwendige Prozedur jenen Patienten, bei denen Leidensdruck und Geldbörse groß genug sind.

Baldcafe-Betreiber James legt mit seiner auf Rasierschaum und -klingen basierenden Schocktherapie den Weg der Selbstakzeptanz nahe – und immer mehr Männer tun es ihm nach. Für Adam hat sich die Sorge ums Haupthaar wenige Wochen nach seiner Rasur fast ganz erledigt. In einem Interview auf Youtube erzählt er von den positiven Reaktionen, die er von seinen Freunden und von seiner Familie bekommen hat. "Wenn du dir einmal den Schädel rasiert hast, dann willst du nicht zurück. Dann brauchst du nicht mehr zurückzugehen", sagt er und lächelt ein kalifornisches Lächeln. (Benjamin Stolz, 23.9.2022)

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