Dass Wladimir Putin gefährlich ist, weiß die Welt seit vielen Jahren. Wie gefährlich er ist, beweist er täglich seit dem Überfall auf die Ukraine – und seit seiner Rede am Mittwoch noch mehr. Denn Putin ist bereit, großes Risiko einzugehen, aber nicht bereit, bei Schwierigkeiten einen Schritt zurückzutreten. Wenn er in der Klemme steckt, verdoppelt er den Einsatz. Bei einem Diktator, der über eine riesige Armee und tausende Atomwaffen verfügt, kann dieser Charakterzug die ganze Welt ins Verderben stürzen.

Mit der Teilmobilisierung und der Bestätigung von Scheinreferenden in ukrainischen Provinzen, die von Russland ganz oder teilweise besetzt sind, hat Putin den Ukraine-Krieg auf die nächste Eskalationsstufe geführt. Er tut das in einem Augenblick, in dem er von seinen Zielen – der Eroberung des ganzen Donbass und der Unterwerfung der Ukraine – weiter entfernt ist denn je.

Wladimir Putin den Ukraine-Krieg auf die nächste Eskalationsstufe geführt.
Foto: IMAGO/Ilya Pitalev/SNA

Das bedeutet, dass er keine zeitlichen Grenzen in diesem Krieg sieht und auch keine Grenzen beim Einsatz militärischer Mittel. Die nukleare Option, die er schon seit Monaten in den Raum stellt, ist realer geworden. Denn für die Verteidigung von russischem Territorium – und das werden die vier Provinzen nach Putins Lesart in Kürze sein – ist der Einsatz von Atomwaffen laut der eigenen Staatsdoktrin erlaubt.

Ein solcher Schritt wäre bei einem rational denkenden Herrscher, egal wie grausam er ist, unvorstellbar. Russische Atomwaffen würden die Ukraine nicht in die Knie zwingen, das eigene nationale Überleben aber gefährden. Doch im Westen kann man sich nicht mehr sicher sein, ob Putin noch zu rationalen Entscheidungen fähig ist.

Erpressung und Drohungen

Genau das will Putin. Er sieht sich in einem Krieg mit der Nato, den er militärisch nicht gewinnen kann. Zu modern sind die Waffen im westlichen Arsenal, zu motiviert die ukrainischen Soldaten, von denen sie eingesetzt werden. Seine beste Chance ist, durch Erpressung mit Gas und Drohungen mit dem Atompilz die Unterstützung für die Ukraine in Europa und den USA zu brechen. Das ist kein Bluff, sondern Kalkül: Sich wahnsinnig zu geben, kann rational sein.

Wie soll der Westen darauf reagieren? Sich nicht einschüchtern zu lassen ist die erste Maxime, denn sonst ginge Putins Taktik auf. Es hat auch wenig Sinn, in Panik selbst an der Eskalationsschraube zu drehen. Das Beste ist, Putins Furor zu ignorieren und den bisherigen Kurs beizubehalten – die Ukraine mit Waffen auszustatten, ihr finanziell über die Runden zu helfen und den Druck auf Russland mit Sanktionen schrittweise zu erhöhen – genau das, was die westlichen Regierungen jetzt tun.

Ob die Mobilisierung Putins Armee stärken oder viel eher sein Regime politisch schwächen wird, weiß derzeit niemand. Die geplanten Annexionen sind hingegen zweifellos ein taktischer Fehler. Sie werden die Sympathie für Moskau im Globalen Süden, wo sich viele Staaten vor Grenzverschiebungen fürchten, weiter untergraben. Und sie zerstören die Chance für die eine Verhandlungslösung, bei der Putin aus dem Krieg mit einem Mini-Erfolg aussteigen könnte: die internationale Anerkennung der Krim-Annexion von 2014.

Wenn Putin ein Fünftel der Ukraine zu russischem Staatsgebiet erklärt, dann kann Kiew nicht mehr über Grenzen verhandeln. Dann lässt sich dieser Krieg nur noch durch ein Ergebnis beenden: den vollständigen Sieg der Ukraine. (Eric Frey, 22.9.2022)