Am Montag veröffentlichten eine Expertenkommission der Uno ihren Bericht über Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Äthiopien. Kommissionsvorsitzende Kaari Betty Murungi forderte die äthiopische Regierung dazu auf, "sofort grundlegende Dienstleistungen wiederherzustellen und vollen und ungehinderten humanitären Zugang zu gewährleisten".

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Von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, sind Truppen aus der nordostafrikanischen Diktatur Eritrea in den vergangenen Tagen auf breiter Front in die benachbarte Bürgerkriegsprovinz Tigray in Äthiopien einmarschiert. Dort kam es bereits zu ersten Gefechten mit den Tigray Defence Forces (TDF). Das Wiederaufflammen des Krieges bringt die sechs Millionen Menschen zählenden Provinzbevölkerung noch weiter in Bedrängnis: Sie leben seit der Abriegelung Tigrays durch äthiopische Regierungstruppen vor fast zwei Jahren unter äußerst prekären Verhältnissen, viele von ihnen sind der Hungersnot nahe.

Wegen der Blockade wird Tigrays Bevölkerung nur unregelmäßig und unzureichend von der Hilfe des Welternährungsprogramms (WFP) erreicht, das Telefonnetz ist unterbrochen, Strom und Treibstoff sind Mangelware. Der US-Beauftragte für das Horn von Afrika, Mike Hammer, äußerte sich "tief besorgt" über die jüngsten Entwicklungen. Er forderte Eritrea am Dienstag auf, seine Invasion ins Nachbarland unverzüglich zu stoppen.

Dem verlässlichen Webportal Crisis in Ethiopia zufolge überschritten eritreische Soldaten die Grenze zur Tigray-Provinz an mindestens drei Stellen und stoßen derzeit weiter Richtung Süden vor. Gleichzeitig werden aus dem Süden und Westen der Provinz Kämpfe zwischen den TDF und den von amharischen Milizionären unterstützten äthiopischen Regierungstruppen gemeldet.

Aufrufe zur Verteidigung

Militärfachleute bezweifeln, dass die TDF dem Vielfrontenkrieg lange standhalten können. "Unsere Soldaten verteidigen ihre Stellungen heroisch", versucht Getachew Reda, Sprecher der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), auf Twitter Hoffnung zu machen.

Am Dienstag hatte die TPLF die Provinzbevölkerung dazu aufgerufen, sich angesichts der "existenziellen Bedrohung" dem "totalen Krieg gegen die Absichten unsere Feinde" anzuschließen. Auch Eritrea habe eine Generalmobilmachung ausgerufen und seine gesamten Streitkräfte in den Krieg geschickt, teilte TPLF-Sprecher Reda mit. Dagegen beharrte Eritreas Informationsminister Yemane Gebremeskel darauf, dass nur "eine winzige Zahl an Reservisten" einberufen worden sei. Die US-Regierung bestätigte die Invasion der eritreischen Streitkräfte. "Wir haben die Bewegungen über die Grenze verfolgt, und wir verurteilen sie", sagte US-Diplomat Hammer.

Berichten aus Addis Abeba zufolge schaffte die äthiopische Regierung in den vergangenen Wochen große Mengen an Waffen und tausende Soldaten in den Norden des Landes. Anfang September seien allein an einem Tag 1.800 Soldaten in die nahe der Front gelegene Provinzstadt Lalibela geflogen worden.

Kriegsverbrechen

Nach den abermals ausgebrochenen Kämpfen sind erneut Kriegsverbrechen zu befürchten, die den zweijährigen Konflikt bereits von Anfang an überschatten. Am Montag veröffentlichten UN-Experten ihren Bericht über zahlreiche Vergehen aller beteiligten Parteien. So seien Kinder bei Drohnenangriffen der Regierungsarmee zerfetzt und auch bewusstes Aushungern regelmäßig als Waffe eingesetzt worden. Soldaten aller Seiten hätten immer wieder Frauen vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt. Einige dieser Vorkommnisse seien als Kriegsverbrechen zu bewerten, urteilten die drei von der UN-Menschenrechtskommission beauftragten Experten.

US-Diplomat Hammer rief die Kriegsparteien jetzt zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auf: Informelle Gespräche hatten zwischen Mai und August für eine Waffenruhe gesorgt. Die Gespräche kamen allerdings zum Erliegen, als die TPLF ein Ende der Blockade Tigrays und den Abzug aller fremden Truppen aus der Provinz als Bedingung für offizielle Verhandlungen forderte.

Dass die Gespräche wieder aufgenommen werden, gilt als äußerst unwahrscheinlich: Expertinnen und Experten sagen mittlerweile eher eine humanitäre Katastrophe in Tigray voraus. (Johannes Dieterich, 22.9.2022)