"Russland ist die Zukunft" steht auf dem Flugblatt, das ein Mädchen in der selbsternannten Volksrepublik Luhansk hält. Hier und in drei weiteren ukrainischen Regionen finden ab Freitag Scheinreferenden für eine Eingliederung in die Russische Föderation statt.

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Heute, Freitag begannen in vier ukrainischen Gebieten jene vom Westen heftig kritisierten "Referenden", mit denen Moskau ihre Eingliederung in die Russische Föderation rechtfertigen will. Damit einher geht auch die Teilmobilmachung, die Kreml-Chef Wladimir Putin bereits am Mittwoch in einer vielbeachteten TV-Ansprache verkündet hat – und die ihrerseits für Sorgen und auch für Proteste in Russland sorgt.

Frage: Wo wird abgestimmt?

Antwort: Im Donbass, also den von Moskau weitgehend kontrollierten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk, sowie in den von der russischen Armee besetzten Teilen der Gebiete Saporischschja und Cherson haben die von 23. bis 27. September angesetzten sogenannten Referenden offenbar bereits begonnen. Von einem historischen Tag sprach der Separatistenchef Denis Puschilin in der von Russland anerkannten "Volksrepublik Donezk". "Dieses Referendum ist entscheidend, es ist der Durchbruch in eine neue Realität", sagte er in einem im Nachrichtenkanal Telegram veröffentlichten Video. Das Gebiet Luhansk teilte zudem mit, dass auch nach Russland geflohene Bürger dort abstimmen könnten.

Frage: Wieso werden diese weitläufig als "Scheinreferenden" bezeichnet?

Antwort: Weil bereits die Abhaltung der Abstimmungen internationale Verträge sowie die territoriale Integrität der Ukraine verletzt. Das war bereits 2014 der Fall, als Russland die Krim annektierte. Putin versuchte die Annexion als saubere und weitgehend unblutige Vereinigung zu präsentieren, auf die Russland ein historisches Anrecht hätte. Diesmal herrscht in den betroffenen Gebieten zudem Krieg, es kann also schwer überhaupt der Anschein erweckt werden, dass die Wahl ordnungsgemäß, geheim und frei stattfinden kann. Am Donnerstag, also nur einen Tag vor dem geplanten Beginn der Scheinreferenden, wurden Marktplätze in den betroffenen Regionen von Explosionen erschüttert. Im ostukrainischen Donezk sowie in der Stadt Melitopol im Südosten des Landes gab es Tote. Wie viele Zivilisten unter den Opfern waren, blieb vorerst unklar. Einmal mehr machen sich Vertreter Russlands und der Ukraine gegenseitig für die Vorfälle verantwortlich.

Frage: Was bezweckt Russland mit den "Referenden"?

Antwort: Russland wird nach den Scheinabstimmungen – die mit ziemlicher Sicherheit so ausgehen werden, dass sich eine Mehrheit für die Angliederung an Russland ausspricht – den Verteidigungskampf ukrainischer Truppen als Angriff auf das eigene Territorium werten. Putins Aussagen zufolge könnten in diesem Fall dann auch Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden.

Frage: Wie reagierte Kiew?

Antwort: In einer ersten Stellungnahme hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die russische Bevölkerung zum Widerstand gegen die Teilmobilmachung aufgerufen: Sie sollten fliehen, kämpfen oder protestieren. Zigtausende russische Soldaten seien bereits gestorben. Wenn sie nicht auch dazugehören wollen, sollten sie laufen, so Selenskyj sinngemäß. "Ihr seid bereits Mittäter all der Verbrechen, der Ermordung und Folterung von Ukrainern", sagte er in Richtung der russischen Bevölkerung.

Frage: In welchem Zusammenhang steht die Teilmobilmachung Putins mit den Scheinreferenden?

Antwort: Beides wird von Fachleuten als Zeichen der Schwäche Moskaus interpretiert. Es läuft bei weitem nicht so wie geplant für die russischen Streitkräfte in der Ukraine. Mittlerweile sind die Reihen ausgedünnt, viele sind gefallen, noch mehr wurden verwundet. Hunderttausende Reservisten werden nun einberufen. Die weithin konstatierte Schwäche Putins und seiner Armee bedeutet also nicht, dass die russische Führung um Entspannung bemüht ist.

Frage: Wie steht man in Russland zur Ankündigung Putins zur Teilmobilmachung?

Antwort: Viele demonstrierten gegen den Schritt, vor allem in den Metropolen. Ähnlich große Proteste hatte es zuletzt in den Tagen direkt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar gegeben. Das Bürgerrechtsportal OVD-Info meldete am Donnerstag hunderte Festnahmen in dutzenden Städten des Landes. Allein in Moskau und Sankt Petersburg wurden demnach jeweils mehr als 500 Menschen in Gewahrsam genommen. Insgesamt sollen am Donnerstagnachmittag noch etwa 1.300 Personen in Haft gewesen sein. Gleichzeitig versuchen viele, Russland zu verlassen. Direktflüge von Moskau nach Istanbul in der Türkei und Eriwan in Armenien waren bereits am Mittwoch ausverkauft, wie aus Daten der russischen Flugbuchungsseite Aviasales hervorging. Finnland registrierte zuletzt einen Anstieg an Grenzübertritten. Vor allem die südöstliche Grenze zu Russland sei weiterhin stark frequentiert, erklärte der Grenzschutz des Landes am Freitag gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Bereits am Donnerstag habe sich die Zahl der einreisenden russischen Bürger im Vergleich zur Vorwoche mehr als verdoppelt. An den Grenzen zu Georgien und zur Mongolei sollen sich ebenfalls Autoschlangen gebildet haben.

Frage: Wie reagiert die EU auf einen möglichen Zustrom von Asylsuchenden aus Russland?

Antwort: Die Europäische Kommission appellierte an die EU-Mitgliedsstaaten, sich auf eine einheitliche Linie für den Umgang mit Flüchtlingen aus Russland zu einigen. Seit Kriegsbeginn hätten schon eine halbe Million Russinnen und Russen ihre Heimat verlassen, sagte ein Kommissionssprecher. Asylanträge einreisender Russen müssten von Fall zu Fall geprüft werden, jeweils unter Berücksichtigung der Grundrechte und der geltenden Rechtsvorschriften für Asylverfahren. Mit offenen Armen werden die russischen Flüchtenden aber nicht gerade empfangen. So erwägt nicht zuletzt die Regierung in Helsinki Einreisebeschränkungen. Ministerpräsidentin Sanna Marin sprach etwa davon, dass der "russische Tourismus" gestoppt werden müsse. Die ebenfalls an Russland grenzenden EU-Länder Estland, Lettland sowie Litauen und Polen (letztere nur via der russischen Exklave Kaliningrad) weisen schon seit einigen Tagen russische Staatsbürger an den Grenzen ab. Dazu wird es in den kommenden Tagen wohl noch weitere Diskussionen geben.

Frage: Wie reagiert das offizielle Moskau auf die Berichte zu dem angeblichen Exodus?

Antwort: Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies diese Berichte zurück. Dass Männer, die bei den Protesten gegen die Teilmobilmachung festgenommen wurden, Einberufungsbefehle für den Einsatz in der Ukraine bekommen könnten, dementierte er jedoch nicht. Dies sei nicht illegal. (Noura Maan, Gerald Schubert, 23.9.2022)