Ein Internierungslager in der chinesischen Provinz Xinjiang. Immer wieder wird von Menschenrechtsverletzungen berichtet, verübt an muslimischen Uiguren und anderen Minderheiten.

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Hunderttausende chinesische Staatsbürger wurden laut Schätzungen in den vergangenen Jahren in der Provinz Xinjiang in Lagern interniert und umerzogen. Sayragul Sauytbay ist eine der wenigen, die darüber in Sicherheit berichten können.

Der ethnischen Kasachin, die 2017 monatelang in einem sogenannten Umerziehungslager Zwangsarbeit verrichten musste, gelang 2018 die Flucht aus China. Heute lebt sie im schwedischen Exil und kämpft für das Schicksal aller Minderheiten im Westen Chinas – wo die Behörden einen gnadenlosen Überwachungsstaat errichtet haben.

Über den Horror der Lager berichtete Sauytbay am Donnerstag in Wien – auf Einladung der Menschenrechtssprecherin des ÖVP-Parlamentsklubs, Gudrun Kugler. Dabei wurde verkündet, dass Kugler Sauytbay für den diesjährigen Friedensnobelpreis vorschlagen möchte. Die Geschichte von Sauytbay habe sie "zutiefst berührt", so Kugler zum STANDARD über ihre Beweggründe. Man dürfe angesichts der systematischen Menschenrechtsverletzungen in China nicht wegschauen. Stattdessen gelte es, Druck auf Peking aufzubauen – insbesondere auf dem Weg der internationalen UN-Organisationen – und "über Möglichkeiten zu reden, die Abhängigkeit des Westens von China zu reduzieren".

Sauytbay gehört Chinas kasachischer Minderheit an.
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STANDARD: Die Provinz Xinjiang wird heute vor allem mit der Unterdrückung der Uiguren in Verbindung gebracht. Wird dabei etwas übersehen? Sie sind Kasachin.

Sauytbay: In Ostturkestan (Xinjang auf Chinesisch, Anm.) leben Angehörige zahlreicher weiterer muslimischer Turkvölker wie Kasachen, Usbeken oder Kirgisen. Und auch sie sind die Opfer dieses Völkermords. Nicht als Chinese geboren zu werden gilt dort als Verbrechen. Jedem, auf den das zutrifft, droht das Verschwinden.

STANDARD: Sie haben sich jahrelang angepasst: Sie waren Mitglied der Kommunistischen Partei (KP), Sie haben Schulen geleitet. All das hat Sie nicht davor bewahrt, ins Lager zu kommen?

Sauytbay: Als Staatsbeamtin war ich Teil des Systems. Doch egal, wie sehr man sich anpasst, man bleibt dem System ausgeliefert. Jeder kann zum Werkzeug der KP werden, keiner ist davor sicher.

STANDARD: Was haben Sie im Lager gesehen?

Sauytbay: Weil ich gut Chinesisch kann und gut ausgebildet bin, wurde ich wohl dazu auserwählt, die Insassen "umzuerziehen". Ich habe leere Gesichter und geschorene Köpfe gesehen. Ich habe gesehen, dass sie dort Leute gefoltert haben. Dass Frauen vergewaltigt wurden – und das vor den Augen der anderen. Und ich fürchtete, dass all das eines Tages auch mir drohen würde.

STANDARD: Wie haben Sie das ausgehalten?

Sauytbay: So aussichtslos alles auch schien – ich war isoliert, ohne Kontakte nach außen –, habe ich die Hoffnung nie verloren. Einerseits half dabei mein tiefer Glaube – an Gott und an das Gute –, der sich kaum in Worte fassen lässt. Aber ich habe es auch als moralische Pflicht aufgefasst, wieder herauszukommen und darüber zu berichten.

STANDARD: Und wie kamen Sie da wieder heraus?

Sauytbay: Ich wurde kurzfristig entlassen. Doch ich ahnte, dass sie mich nur entlassen hatten, um mich bald wieder festzunehmen – diesmal als Häftling. Also habe ich mich entschieden zu fliehen. Denn mir war klar: Es ist besser, auf der Flucht zu sterben, als in diesem Lager zu verrotten und einen langsamen Tod zu sterben.

STANDARD: Ihnen gelang die Flucht nach Kasachstan. Doch dort wurde Ihnen das Asyl verwehrt, obwohl Ihr Mann und Ihre Kinder dort eine neue Heimat gefunden hatten.

Sauytbay: Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Kasachstan, so wie zahlreiche Staaten in Zentralasien, sind von China wirtschaftlich abhängig. Wenn der Staatschef Xi Jinping dort auf Besuch ist, werden Angehörige von in chinesischen Lagern Vermissten einfach weggesperrt. Man braucht sich keine Illusionen machen: China plant alles im Detail und mit Vorlauf. Sie werden mit ihren Verbrechen nicht bei Ostturkestan aufhören, die Welt darf China nicht aus den Augen lassen.

STANDARD: Die Uno hat jüngst öffentlich in einem Bericht festgehalten, dass China in Xinjiang womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Und dennoch zieht der Westen keine Konsequenzen daraus. Sind Sie es langsam leid, Ihre Geschichte zu erzählen?

Sauytbay: Keinesfalls. Ich habe die Hoffnung längst aufgegeben, dass sich schnell etwas ändert. Aber ich bin überzeugter denn je, dass dieser Schrecken ein Ende finden wird. Es ist nur eine Frage der Zeit. Schließlich sind nicht nur die Uiguren und Kasachen Opfer der KP, sondern auch die Chinesen selbst – etwa in Hongkong. Freiheit und Frieden sind keine Selbstverständlichkeiten – auch nicht hier in Europa mit seiner finsteren Geschichte. Dafür gilt es zu kämpfen. Auch wenn das bedeutet, dass ich mit Morddrohungen gegen mich und meine Kinder durch Handlanger der KP leben muss. (INTERVIEW: Flora Mory, 23.9.2022)