"Es gibt die Annahme, dass wir gierig sind und nicht monogam sein können", sagt Julia Shaw.

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Sind wir nicht alle ein bisschen bi? Und wenn ja, warum reden wir dann so wenig darüber?Trotz Regenbogenflaggen überall ist das B in LGBTIQ oft erstaunlich unsichtbar – dabei sind bisexuelle Menschen die größte sexuelle Minderheit überhaupt. Zeit, das zu ändern, dachte sich die Rechtspsychologin Julia Shaw und schrieb das Buch "Bi – vielfältige Liebe entdecken".

STANDARD: Das hier ist ein komplett bisexuelles Interview – wir beide haben uns somit schon gleich am Anfang geoutet. Warum ist es überhaupt so wichtig, dass wir das tun? Heterosexuelle tun das ja schließlich auch nicht ständig.

Shaw: Es ist dieses Narrativ des Schranks, diese Idee, dass wir uns outen müssen. Und es ist richtig zu fragen: "Brauchen wir das überhaupt?" Aber die Antwort ist weiterhin Ja, weil wir sonst unsichtbar sind. Und solange wir unsichtbar sind, ist es sehr schwer, für unsere Menschenrechte zu kämpfen und uns gegenseitig zu sehen. Es gibt viele von uns, eine ganze Community, wir sind nicht allein.

STANDARD: Wie genau definiert man denn Bisexualität? Ich dachte immer, das "bi" steht für zwei Geschlechter, also für Mann und Frau. Seit ich Ihr Buch gelesen habe, weiß ich, das "bi" steht für sowohl homo als auch hetero.

Shaw: Genau. Es geht um die sexuelle und oder romantische Anziehung zu mehreren Geschlechtern. Dabei geht es um drei Dinge. Das Benehmen: Wen habe ich schon mal geküsst, mit wem habe ich geschlafen? Dann die Romantik: In wen möchte oder kann ich mich verlieben? Und die Beziehung: Mit wem möchte ich eine Beziehung führen? Oft kommt dann als Antwort von Frauen: Ja, ich finde Frauen schon gut, aber eine Beziehung würde ich nur mit einem Mann haben wollen. Daraus entsteht oft ein spannendes Gespräch. Natürlich ist da die Frage, ob man Kinder möchte, aber es geht oft um etwas anderes: nämlich darum, dass nie wirklich gezeigt wird, wie eine langjährige homosexuelle Beziehung überhaupt aussehen kann. Deswegen fehlt uns da die Vorstellungskraft. Was uns nicht vorgelebt wird, das sehen wir auch nicht für uns selbst.

STANDARD: Warum ist Bisexualität überhaupt so unsichtbar – und war lange sogar ungoogelbar?

Shaw: Einige Tech-Firmen haben sogar den Begriff "Bisexualität" unter Pornografie eingestuft, und da kann man sagen, ja, wahrscheinlich weil in "bisexuell" das Wort "Sex" mit drinsteckt. Aber das stimmt nicht, denn "heterosexuell" ist nicht geändert worden und "homosexuell" auch nicht. Also ging es wirklich um "bisexuell", und zwar weil "bi" automatisch als pornografisch eingestuft wurde – was bei vielen auch im Kopf noch so ist. Viele denken da direkt an Pornos, also an Fantasien und nicht an Realitäten, nicht an Identitäten und auch nicht daran, warum das etwas Wichtiges und Eigenes ist.

STANDARD: Und so entstehen Klischees und Mythen.

Shaw: Frauen und andere weiblich gelesene Bisexuelle werden sehr oft hypersexualisiert. Es gibt die Annahme, dass wir gierig sind und nicht monogam sein können, ständig irgendwie Sex haben wollen, was dann natürlich gesellschaftlich wieder als problematisch gilt. Bei Männern und männlich gelesenen Menschen gibt es eher die Annahme, dass sie in Wirklichkeit doch schwul sind und dann lügen, wenn sie sagen, sie sind bi. Das hat dann auch unterschiedliche Effekte aufs Dating: Heterosexuelle Männer denken bei einer Bi-Frau oft, "wie cool, dann kann ich ja endlich einen Dreier haben", während heterosexuelle Frauen bei Bi-Männern oft erst mal abgeschreckt sind. Da muss man wirklich überlegen, was für unterschiedliche Stereotype es gibt und wie wir sie entsprechend herunterbrechen und bekämpfen können.

Julia Shaw: "Bi. Vielfältige Liebe entdecken". 25,95 Euro / 304 Seiten, Hanser-Verlag, 2022

STANDARD: Was sind denn die Konsequenzen dieser Sterotypisierung?

Shaw: Wir wissen aus der Forschung zum Thema sexuelle Gewalt gegen bisexuelle Menschen, dass 61 Prozent aller bisexuellen Frauen schon einmal physische und psychische Gewalt erlebt haben – im Vergleich zu 44 Prozent aller lesbischen und 35 Prozent aller heterosexuellen.

Eine weitere Studie hat gezeigt, dass Menschen, die sich in einem Bewerbungsprozess als bisexuell outen, weniger Geld angeboten wird als homo- oder heterosexuellen. Man kann dieses Gedankenexperiment sofort selbst machen: Wer von uns kennt eine bisexuelle Person am Arbeitsplatz? Und wie viele kennen wir, die offen schwul oder lesbisch sind? Ich habe total unterschätzt, wie sehr mein eigenes Coming-out am Arbeitsplatz mich professionell beeinflussen würde, ich fühle mich jetzt ganz anders, weil ich mit diesem Aspekt meines Lebens offen umgehen kann. Und genau das sehen wir auch an den Statistiken: dass Menschen, die sich outen können und sich wohlfühlen, besser performen und eher bei einem Arbeitgeber bleiben. Und sich ansonsten eher einen anderen Arbeitsplatz suchen, der sie willkommen heißt.

STANDARD: Und was sind die psychologischen und psychischen Konsequenzen von bisexueller Unsichtbarkeit?

Shaw: Die neueste Forschung, die so neu ist, dass sie noch nicht einmal in meinem Buch ist, besagt, dass zum Beispiel die Herzinfarktgefahr für bisexuelle Menschen höher ist als für homosexuelle. Auch Angststörungen und Depressionen sind unter bisexuellen Menschen häufiger, ebenso nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten. Das sind alles negative Konsequenzen der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung, die Bisexuelle sowohl von hetero- als auch homosexueller Seite erfahren. Man fragt sich beispielsweise: "Wo gehöre ich eigentlich hin, und mit wem kann ich darüber sprechen? Gibt es das überhaupt, was ich hier erlebe? Gibt es andere wie mich?" Manchmal kommt dann die Frage, ob bisexuelle Menschen einfach grundsätzlich irgendwie psychisch gestört sind, und da muss man ganz klar sagen: nein. Das soziale Umfeld, das bisexuelle Menschen ausgrenzt, sorgt für die psychischen Konsequenzen. Das ist ganz ganz wichtig, das dazuzusagen.

STANDARD: Was sagen Sie zu dem Argument, wir sollten doch froh sein, dass wir es "uns aussuchen" könnten? Ist es nicht auch "gut", dass uns niemand die Bisexualität anmerkt?

Shaw: Natürlich kann man je nach Kontext auch so tun, als wäre man straight, lesbisch oder schwul. Aber natürlich ist auch das ein Verstecken. Das tun homosexuelle Menschen auch manchmal, zum Beispiel in Ländern, wo es illegal ist, homosexuellen Sex zu haben. Aber das ist ein Problem und kein Luxus. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Menschen das machen müssen.

Julia Shaw, in Köln geboren und in Kanada aufgewachsen, ist Bestsellerautorin, internationale Referentin und forscht als promovierte Rechtspsychologin am University College London.
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STANDARD: Und dann gibt es noch Homonationalismus.

Shaw: Genau. Dieser Begriff wurde 2007 von der Politikwissenschafterin Jasbir Puar geprägt. Diese Idee, dass Homosexualität Teil einer modernen Gesellschaft ist und wir mit unseren Regenbogenflaggen besser und fortschrittlicher sind als Länder, die queere Menschen ausgrenzen – die dann von Rechten benutzt wird, um sich von Ausländern abzugrenzen. Mir fiel das früher oft auf – dass Menschen, die politisch überhaupt nicht mit mir auf einer Ebene waren, mit ihren Regenbogenflaggen ankamen und mir das irgendwie unangenehm war. Und jetzt weiß ich, warum: weil das verkleideter Rassismus ist – zu zeigen: "Wir sind besser als diese Menschen." Und auch das ist ein Riesenproblem. Das wird schnell benutzt als Waffe, zum Beispiel gegen Menschen, die vielleicht Asylwerber werden.

STANDARD: Als bisexueller Mensch hat man sich immer irgendwie zu beweisen. Es gibt wohl keine andere sexuelle Orientierung, die so sehr angezweifelt wird wie Bisexualität, oder?

Shaw: Ich glaube, asexuelle Menschen kennen dieses Problem auch. Aber im Vergleich zu lesbischen, schwulen oder heterosexuellen Menschen haben Bisexuelle dieses Problem auf jeden Fall oft, ich glaube, sie haben sogar sich selbst gegenüber Zweifel, ob sie bi genug sind, schon mit genug Menschen von beiden Geschlechtern Sex hatten, um sich zu "qualifizieren". Aber wenn man heterosexuell ist und noch nie mit jemandem Sex hatte, muss man es ja auch nicht beweisen. Man kann einfach sagen, wen man attraktiv findet.

STANDARD: Das Klischee ist doch oft: Frauen machen halt mit anderen Frauen rum, weil Männer das toll finden, sind aber eigentlich hetero. Und Männer, die mit Männern und Frauen etwas haben, sind eigentlich schwul. Wollen wir in Wirklichkeit also alle nur etwas mit Männern haben?

Shaw: Das ist so dieses altmodische Konzept der Sexualität als etwas pures Männliches. Was ich – persönlich, nicht wissenschaftlich – in den letzten Jahren beobachte, ist so eine Art Renaissance für Frauen, die ihre eigene Sexualität mehr erforschen und auch ihre eigenen Labels benutzen. Es gibt auch online ganz andere Möglichkeiten, diese Lust zu erforschen und sich zu vernetzen, sich auszuprobieren, ohne dass Männer Zutritt haben. Und das trägt dazu bei, dass sich mehr Frauen denken: "Okay, ich probiere dieses Etikett 'bi' jetzt mal an und schaue mal, wie es ist." Und das ist doch toll. Und auch dass manche von diesen Menschen dann auch wieder sagen werden: "Nee, okay, ich bin doch hetero."

STANDARD: Wenn man als bisexueller Mensch eine monogame Beziehung eingeht: Ist man dann überhaupt noch bi, oder entscheidet man sich in diesem Moment dann doch für eine Orientierung?

Shaw: (lacht) Ja, ist man. Auch dazu gibt es Forschung. Viele bisexuelle Menschen, und auch bisexuelle Mütter, die dann in heterosexuellen oder heterosexuell aussehenden Beziehungen sind, fühlen sich plötzlich unsichtbar und als hetero gelesen. Und man will ja auch nicht die Person sein, die ihre Bisexualität ständig betonen muss. Aber man kann andere Möglichkeiten finden, sich damit sichtbar zu machen, beispielsweise entsprechende Kunst und Bücher zu Hause zu haben – und sich damit sagen: Dieser Teil von mir ist nicht gestorben, nur weil ich im Moment mit einem Menschen in einer Beziehung bin und nicht als bi gelesen werde.

STANDARD: Was ist – trotz all dieser Probleme – das Beste am Bisexuellsein?

Shaw: Laut meiner Lieblingsstudie: die Freiheit. Das finde ich so schön. Warum entscheiden und vielleicht Nuancen verlieren? (Theresa Lachner, 23.9.2022)