Die Autorin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger.

Foto: Elodie Grethen

Um mit einem Geständnis zu beginnen: Ich bin einer der ängstlichsten Menschen, die ich kenne. Ich habe Angst vor Krankheiten (sehr gemütlich während einer Pandemie), vor langen Reisen, vor bösen Menschen, vor Schmerzen und Trägheit, vor schlaflosen Nächten, vor Einsamkeit, vorm Zahnarzt und seinen Gerätschaften, vor Übergewicht, Pickeln und Haarausfall, vor Nachtfaltern, die sich in Innenräume verirren und nicht mehr hinausfinden, vor dem Versagen und Scheitern, vor dem Tod geliebter Menschen. Im Grunde vor alledem, was mir Unbehagen, Unwohlsein oder, wie es neuerdings euphemistisch genannt wird, "negative Gefühle" beschert. Am wohlsten fühle ich mich in die metaphorische Watte gepackt, in meinem ureigenen Safe Space, den freiwillig zu verlassen mir nicht im Traum einfallen würde.

Dieses Gefühl teile ich wahrscheinlich mit Millionen Menschen, von denen es sich die einen mehr, die anderen weniger eingestehen. Die Spätmoderne und ihr neoliberales Leistungsstreben sind nicht darauf angelegt, dass der Mensch seine Schwächen teilt, sein Unbehagen artikuliert, seinen Ängsten nachgibt. Wenn schon Ängste, dann bitte diese so rasch wie möglich (und am besten noch ästhetisch ansprechend) überwinden, schließlich findet der sprichwörtliche Zauber nur außerhalb der Komfortzone statt. Pilot seines Lebens sein, den Tag pflücken, dem Universum eine Delle verleihen, die Welt verändern: Das geht nur, wenn man sich allen Bedenken zum Trotz immer weiter und weiter hinauswagt, ohne Rücksichtnahme auf die eigenen Befindlichkeiten. Auch wenn man auf solcherlei "Chancen", die als scham- und rücksichtslose Herausforderungen daherkommen, gerne mit Bartleby dem Schreiber, dem antriebslosen, sich stetig verweigernden und dabei immer bei sich bleibenden Helden der gleichnamigen Erzählung Herman Melvilles, antworten würde: "I would prefer not to", zu Deutsch: "Ich möchte lieber nicht".

Mut zur Angst

Nach Jahren des Positivitäts- und Produktivitätsdiktats haben Zeiten wie die unsere somit vielleicht auch etwas Gutes im Schlechten: dass sich immer mehr Menschen in Anbetracht von Seuche, Krieg und Vertreibung, Inflation und Teuerung, Energie- und Klimakrise, dem drohenden Rückschritt nach Dekaden des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Aufstiegs und Fortschritts ihre eigenen Ängste eingestehen trauen. Denn mittlerweile läuft ja derjenige, der angesichts der Weltlage keine Angst hat, Gefahr, als Außenseiter zu gelten. Zu groß, zu bedrohlich und vor allem zu unbezwingbar wirken die Herausforderungen, die sich da vor uns aufbauen. Willkommen in Edgar Morins "Polykrise", willkommen zurück in der "Geschichte" oder, wer es weniger intellektuell mag: Wir sind verloren. Und selbst das könnte ich noch weniger elegant ausdrücken, unterlasse es mit Rücksicht auf die zarteren Gemüter unter den Lesenden aber.

Wie immer man es bezeichnen, intellektualisieren, analysieren, zerlegen und wieder zusammensetzen mag: "Die Welt ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst", wie der französische Intellektuelle, ehemalige Diplomat und Shoah-Überlebende Stéphane Hessel schon im Jahr 2011 konstatierte, und da hatte er nichts von alledem erlebt, was wir in den letzten drei Jahren bewältigen mussten und noch vor uns haben.

Aktuelle Herausforderungen

Nur so lässt sich wohl erklären, dass er vorschnell optimistisch die Errungenschaften der Zivilgesellschaft und ihrer transformativen Kraft auf zwei wesentliche Erfolge herunterbrach: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Befriedung Europas. In Anbetracht der aktuellen Herausforderungen wirkt das wie ein voreilig gezogenes Fazit. An den EU-Außengrenzen, aber nicht nur dort, werden Grund- und Menschenrechte mit Füßen getreten, indem Schutzsuchenden das Recht, ein Asylansuchen zu stellen, durch (mitunter gewaltsame, aber immer völkerrechtswidrige) Pushbacks systematisch aberkannt wird oder sie monatelang in Schlamm und Kälte ohne Zugang zu sauberem Wasser, Gesundheitsversorgung und warmen Mahlzeiten ausharren müssen. Und der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat nun auch dem letzten Menschen in Europa deutlich gemacht, dass unser Kontinent nicht befriedet ist – es im Grunde nie vollständig war, wenn wir an den türkischen Angriff auf Zypern, das Massaker von Srebrenica oder die Annexion der Krim denken. Am Horizont zeichnen sich weitere kriegerische Konflikte, soziale Verwerfungen, Wohlstandsverlust, Verteilungskämpfe und nicht zuletzt die Dystopie eines in weiten Teilen unbewohnbaren Planeten ab.

Und doch findet man allein in diesem Land Tausende, die nicht in Lethargie und Apathie, in der wortwörtlichen Schreckstarre verharren, sich von der Un- und Überzahl der Herausforderungen abschrecken lassen, sondern sich ihnen stellen, ihnen die Stirn bieten. Sich nicht damit begnügen, lakonisch festzustellen, in welcher Welt (nämlich welch einer schrecklichen!) wir leben, sondern in welcher wir zukünftig leben wollen – und wie wir dort hinkommen. Und wenn wir über den österreichischen Schnitzeltellerrand hinausblicken, dann sind es weltweit Millionen Menschen, die für ihre Ideale einstehen und als Zivilgesellschaft Veränderungen fordern und die nicht leise sein werden, bis sie diese erwirkt haben. Das sind die Couragierten.

"Politischer Verstand"

Sie sind es, die, anders als die Wirtschaft oder die Politik, weder den Zwängen des Marktes noch jenen der Machtsicherung unterworfen sind. Sie können wahrlich frei "denken, wollen, herstellen", was die deutsch-jüdische Polittheoretikerin Hannah Arendt als Voraussetzung für den "politischen Verstand" und als unmittelbaren Ausdruck einer "lebendigen Menschlichkeit" sah. Deshalb galt der Mut für sie als politische Kardinaltugend. "Couragiert" wird deshalb für mich immer ein Wort bleiben, das ich mit meiner Kindheit verbinde. "So ein couragiertes Mädel" war ein geflügeltes Wort, eine Auszeichnung, die ich immer wieder hörte, wenn auch selten auf mich angewandt (siehe oben). Couragiert sein hieß, beherzt, tapfer, unerschrocken zu sein, gerade dann, wenn man selber unterlegen war, wenn man sich mit fast überwältigenden Widrigkeiten konfrontiert sah. Kleine Mädchen sind couragiert; Feuerwehrmänner, Rugbyspieler und Vorstandsvorsitzende in grauen Anzügen sind furchtlos. Der Duden mag da widersprechen, aber für mich war "Couragiertsein" von jeher das Gegenteil von Furchtlosigkeit: Eben weil man sich fürchtet, agiert man couragiert, weil man die Furcht übergeht, trotz der Furcht handelt, sie nicht einmal überwinden, sondern zur Verbündeten machen muss. Es ist die Furcht, die blanke Panik vor der Welt, die die Couragierten antreibt.

Judith Kohlenberger, "Die Couragierten. Über die transformative Kraft der Zivilgesellschaft", 40 Seiten, Globart 2022
Foto: Globart

Geht man weit genug zurück, so hat die Mehrzahl der modernen Errungenschaften ihren Ursprung in zivilgesellschaftlichen und sozialen Bewegungen, die von einer breiten Allianz trotz ihrer vermeintlichen Ohnmacht gegenüber den Umständen getragen wurden. Es ist der Wunsch nach einer gleicheren, freieren und solidarischeren Welt, der sich in Grund- und Menschenrechtsanliegen, in Tier- und Umweltschutz, in Armutsbekämpfung und Einstehen für soziale Gerechtigkeit konkretisierte – und es immer noch tut.

All diese Bewegungen eint, dass sie nicht einfach nur dagegen waren, sondern in sich eine Vision für ein Dafür getragen haben. Das grenzt die transformative Zivilgesellschaft bis heute nicht nur von Schwurbler*innen und Reichsbürger*innen ab, sondern unterscheidet sie auch vom reinen Protest, der sich nicht immer, aber immer öfter im Dagegenreden erschöpft. Nach dem Anschreien, Zerstören und Niederreißen kommt aber irgendwann der Moment, Neues zu schaffen. Der Moment des Gestaltens, Machens, Wachsenlassens zeigt sich in Freiwilligenarbeit und gemeinnützigen Initiativen, in der tagtäglichen Vereins- und Gedenkarbeit. In den vielen Menschen österreichweit, die ehrenamtlich und in ihrer raren Freizeit Nachbarschaftshilfe leisten, Geflüchteten Deutschunterricht geben, Denkmalpflege betreiben, Flurreinigungen organisieren, Bildungsarbeit machen, kurz: ihren Nächsten anrühren und damit Distanz überwinden. Dann ist zivilgesellschaftliches Handeln wirklich transformativ: Wenn es im Niedergang des Alten bereits den Aufstieg des Neuen mitdenkt und mitverhandelt.

(Judith Kohlenberger, 29.9.2022)