Was den Westen betrifft, so spricht Masala von einer Interventionsfalle.

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Die Welt ist aus den Fugen. Wir wissen und spüren es – und sehnen uns nach früher, als alles "normal" war. Zugleich beschleicht uns das Gefühl, dass es so "normal" wie früher nicht mehr werden wird. Es ist globale Instabilität, die zum Normalzustand werden wird: Das ist die These des deutschen Politologen Carlo Masala. Die These ist nicht neu, wird aber durch Putins Überfall auf die Ukraine auf dramatische Weise erhärtet. Der Neuauflage seines erstmals 2016 erschienenen Buches Welt-Unordnung – Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens fügt Masala ein neues Schlusskapitel über die "Zeitenwende" hinzu, die mit dem 24. Februar 2022 begann.

Masalas zentrale Thesen: Der Versuch, die Welt zu verwestlichen, ist gescheitert. Und: Die neue Unordnung ist der Zustand, an den wir uns gewöhnen müssen und an den sich staatliche Politik anpassen muss.

Interventionsfalle

In kaum einer anderen Epoche habe es so viele militärische Interventionen gegeben wie zum Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, schreibt Masala. Die meisten seien vom Westen ausgegangen, von der US-Invasion in Panama 1989 über Somalia 1993, Bosnien 1994 und Afghanistan 2001 bis zum "Angriffskrieg", wie er ihn nennt, gegen den Irak 2003. Dazu kamen das militärische Eingreifen Russlands 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine sowie die saudi-arabische Intervention im Jemen 2015.

Was den Westen betrifft, so spricht Masala von einer Interventionsfalle. Der Westen könne seine militärischen Interventionen nämlich nicht so exekutieren, wie es für einen nachhaltigen Erfolg notwendig wäre. Für einen massiven Einsatz von Bodentruppen und allenfalls jahrelange Besetzung eines Landes fehle schlichtweg die gesellschaftliche Unterstützung. Die augenfälligsten Beispiele sind Afghanistan und der Irak. Der von US-Präsident Joe Biden angeordnete überstürzte und chaotische Abzug aus Afghanistan hatte in erster Linie innenpolitische Motive – und war zugleich das Eingeständnis westlichen Scheiterns.

Carlo Masala, "Welt-Unordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens". 3., aktualisierte Auflage. € 17,40 / 200 Seiten. C. H. Beck, München 2022
Foto: C. H. Beck, München 2022

Letztlich trage der moralisch begründete "liberale Interventionismus" zur Eskalation von Konflikten sowie zur Diskreditierung der Ordnung, der er eigentlich global zum Durchbruch verhelfen solle, bei. Der Westen sei sich über die Regeln, die er anderen auferlegen wolle, zumeist uneinig. Das wiederum diskreditiere den Universalismus von Menschenrechten, weil er als ein liberal-imperiales Instrument erscheine. Staaten wie Russland, China oder Indien wollten auch ihre Vorstellung von Gerechtigkeit berücksichtigt sehen. Die westliche Politik "mit ihren Doppelstandards, ihrem Egoismus, ihren Ausnahmen und Widersprüchen" werde als klassische Machtpolitik mit anderen Mitteln empfunden. "Das Ergebnis dieser verfehlten Politik ist eine weitgehende Diskreditierung der Werte und Normen der westlichen Welt im globalen Maßstab (...). Der Traum von der Verwestlichung der Welt ist heute ausgeträumt (...)."

Macht als Nullsummenspiel

Eine weitere These Masalas: Macht war, ist und bleibt ein Nullsummenspiel. Jeder Versuch eines aufstrebenden Staates, seine Macht in einer Institution zu erweitern, geht unweigerlich zulasten eines bisherigen Mitglieds. Dies aber ist aus der Perspektive der etablierten Großmächte inakzeptabel, weil sie niemals freiwillig Machteinbußen hinnehmen würden. Deshalb sei eine echte Reform internationaler Organisationen unrealistisch. Dem Westen empfiehlt der Autor, verstärkt Ad-hoc-Koalitionen in Krisenfällen zu bilden, sich auf die natürliche Anziehungskraft seiner Werte zu verlassen und deren Verbreitung lediglich dadurch zu fördern, dass er Kooperation und Austausch ermögliche. Man nennt das gemeinhin Realpolitik. (Josef Kirchengast, 24.9.2022)