Eine US-Kirche überwacht ihre Schäfchen mit einer Accountability-Software.

Foto: CHROMORANGE / Ernst Weingartner via www.imago-images.de
Foto: Screenshot Covenant Eyes Vicotry, Google Play Store

Gracepoint ist eine jener evangelikalen Kirchen in den USA, die gerne und oft betonen, dass sie keine Sekte sind. "Wir geben zu, dass wir ein bisschen verrückt nach dem Missionsauftrag und der Verbreitung des Evangeliums sind", heißt es da auf einer FAQ-Seite mit dem Titel "Ist Gracepoint eine Sekte?".

Wie Wired berichtet, nimmt man es also mit dem Evangelium sehr genau, umso überraschter war Kirchenmitglied Grant Hao-Wei Lin, als er dem Kirchenoberhaupt in einem Einzelgespräch von seiner Homosexualität berichtete. Hao-Wei Lin rechnete damit, umgehend aus der Gemeinschaft geworfen zu werden, zu seinem Erstaunen sagte ihm der Priester aber, dass Gott ihn trotz seines "Kampfes mit der gleichgeschlechtlichen Anziehungskraft" liebe.

Anklagende E-Mails dank Spions am Handy

Doch damit war die Sache keineswegs erledigt, und der Kirchenmann nahm die "Bekehrung" Hao-Wei Lins auf den Händen Gottes in seine eigene: Eine Woche später bat er das Kirchenmitglied, eine App namens Covenant Eyes auf seinem Smartphone zu installieren. Diese würde ihm helfen, seine "Triebe" zu kontrollieren, sagte der Pfarrer – Hao-Wei Lin gehorchte und installierte die App.

Binnen eines Monats erhielt er immer mehr anklagende E-Mails von dem Kirchenleiter. Immer wieder war Hao-Wei Lins Surf-Verhalten Thema, und der Priester wusste offenbar ganz genau, welche Seiten der Mann wann angesurft hatte. Außerdem schien der Kirchenoberste genau zu wissen, welche Inhalte davon mit "Mature", also "für Erwachsene", gekennzeichnet waren. "Musst du mir irgendetwas sagen?", lautet der Betreff einer Mail, die "Wired" vorliegt. Im Anhang: beinahe der gesamte Internetverlauf des Empfängers.

"Ein Mitglied braucht deine Hilfe", heißt es in der Push-Benachrichtigung der Shameware.
Foto: Screenshot Covenant Eyes Vicotry, Google Play Store

Wie sich herausstellte, war die App Covenant Eyes dafür verantwortlich. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Rechenschafts- oder Accountability-App. Die App wird gezielt an Kirchen vermarktet, um ihre Schäfchen von einer angeblichen "Pornosucht" zu heilen. Laut eigenen Angaben hat man schon 1,5 Millionen Menschen geholfen, ihre Sucht zu überwinden, heißt es auf der Website der App.

Die App schickte dem Priester massenhaft Material über Hao-Wei Lin, sie sammelte beinahe jeden einzelnen von ihm konsumierten Inhalt. Es war eine Spur digitaler Kleinigkeiten, wenn Hao-Wei Lin etwa ziellos umhersurfte, und von Dingen, die er vergessen hätte, wäre er nicht von seinem Pfarrer damit konfrontiert worden. Besonderes Interesse rief bei dem Kirchenoberhaupt aber ein Inhalt hervor: Hao-Wei Lin hatte auf einer Website namens Statigr.am nach "#Gay" gesucht.

Die "Shameware" zur Kontrolle der Schäfchen

Covenant Eyes ist aber längst nicht die einzige Accountability-App, vielmehr handelt es sich um ein milliardenschweres Ökosystem der Überwachung. Gegen eine monatliche Gebühr können etwa Eltern die Online-Aktivitäten ihrer Kinder überwachen und sehen alles, was die Benutzenden auf ihren Geräten sehen oder tun. Davon werden Screenshots angefertigt und an den "Rechenschaftspartner" geschickt – im Fall von Covenant Eyes war das einmal pro Minute der Fall.

Als Spyware möchte ein ehemaliges Mitglied von Gracepoint die App laut dem Bericht nicht bezeichnen. Aber: "Es ist eher 'Shameware', und es ist nur eine weitere Möglichkeit, wie die Kirche dich kontrolliert."

Google entfernte fragwürdige App zumindest teilweise

Google hat mittlerweile auf den Bericht reagiert und festgehalten, dass die zwei führenden Accountability-Apps Covenant Eyes und Accountable2You gegen die Nutzungsbedingungen des Play Store verstoßen. Tatsächlich dürfte Google die App mittlerweile entfernt haben, wie auch auf der Seite von Covenant Eyes zu lesen ist. Die App für die sogenannten "Rechenschaftspartner" namens Victory ist aber immer noch verfügbar. Laut dem App-Analyseunternehmen Appfigures haben im vergangenen Jahr mehr als 50.000 Menschen Covenant Eyes heruntergeladen. Rocketreach schätzt, dass das Unternehmen einen Jahresumsatz von 26 Millionen US-Dollar erzielt.

Grant Hao-Wei Lin hat den Ausstieg mittlerweile geschafft und die Sekte verlassen. Gracepoint ist laut eigenen Angaben vor allem an Universitäten aktiv, um Studenten zu "helfen". Wired berichtet von einem Pastor, der in einer E-Mail seine freiwilligen Mitarbeiter darauf hinweist, dass sie verpflichtet seien, Covenant Eyes oder Accountable2You auf ihren Smartphones zu installieren. Das sei Teil ihrer Mitarbeitervereinbarung. (pez, 23.9.2022)