Darauf angesprochen, dass seine Doppelrolle als prominente oppositionelle Stimme und Journalist aktuell wohl die zweitgefährlichste Konstellation für einen russischen Staatsbürger ist – nach dem Job als Soldat –, lacht Maxim Katz nur. Der Youtube-Star, der täglich für Millionen von Russinnen und Russen den brutalen Angriffskrieg analysiert, lebt seit Jahren mit der Gefahr. Er war stets darauf vorbereitet, sein mehr als 20-köpfiges Team und seine Familie binnen weniger Stunden außer Landes zu bringen. Zwei Tage vor Kriegsausbruch floh er nach Israel und war nun für die Österreichischen Medientage in Wien.

STANDARD: Was hat Sie am Ende, zwei Tage vor dem Krieg, dazu gebracht, aus Russland wegzugehen? Was hat Sie zu dieser Entscheidung getrieben?

Katz: Nun, ich war mir sicher, dass die russische Regierung zu Beginn des Kriegs alle Meinungen unterdrücken wird, die dagegen sind. Da war ich mir sicher. Ich war mir sicher, dass der Krieg beginnt. Ich lag nur beim Datum falsch. Es geschah eine Woche später. Sie haben alle kritischen Medien geschlossen. Sie verhafteten zwei bis drei Wochen darauf viele Oppositionspolitiker. Alle sind im Gefängnis oder geflohen. Ich kenne mein Land. Ich weiß, was dieses Regime tut, warum und unter welchen Umständen. Deshalb wollte ich mich aus dessen Gerichtsbarkeit raushalten.

STANDARD: Sie sind jetzt eine prominente oppositionelle Stimme. Was hat Sie eigentlich politisiert?

Katz: Die Parlamentswahlen 2011 in Russland. Eine junge Bewegung entschied sich damals, als Beobachter zu den Wahlen zu gehen. Niemand hat sich viel davon erwartet. Plötzlich beobachteten aber alle, dass die Wahlen nicht fair sind. Sie fälschten sie. Sie zählten die Stimmen nicht. Sie haben einfach Ergebnisse hingeschrieben, und wir haben das gefilmt. Dann wollte ich von der Lokalpolitik, wo es mir darum ging, Städte zu verbessern, in die größere Politik wechseln. Ich habe mich also mit der Opposition zusammengetan und mit Alexej Nawalny zusammengearbeitet. Ich wurde in den Oppositionsrat gewählt. So war das.

Videointerview mit Maxim Katz
DER STANDARD

STANDARD: In einem Ihrer letzten Videos sagen Sie: "Ich weiß, dass ihr mich beobachtet!" Gab es Einschüchterungsversuche gegen Sie und Ihr Team?

Katz: Nicht wirklich. Wir haben das mit viel Vorsicht irgendwie geschafft. Ich war stets darauf vorbereitet, mit meinem Team zu verschwinden, bevor sie uns etwas tun. Sie haben mich einmal zur Polizei gerufen und mit einem Strafverfahren gedroht, wenn ich mit etwas Bestimmtem nicht aufhöre. Aber dazu kam es nicht. Vielleicht hatte ich Glück. Wenn Sie in Russland diese Sachen machen, müssen Sie immer mit dem Gedanken leben, zu fliehen oder verhaftet zu werden.

STANDARD: Helfen Sie uns, die russische Propaganda in Richtung Europa zu verstehen. Wie versuchen Sie und Ihr Team gegen diese Desinformation vorzugehen?

Katz: Russland ist sehr gut in Desinformationskampagnen. Forscher sprechen bei solchen Regimen von "Informationsautokratien". Sie nutzen Information, Desinformation und Irreführung, um an der Macht zu bleiben oder bestimmte Dinge zu erreichen. Sie haben Bürogebäude in Moskau und St. Petersburg voller Studenten, die unterschiedliche Sprachen beherrschen, die ihre Agenda verfolgen und die "richtigen" Kommentare in Onlineforen und sozialen Medien schreiben. Das ist ein sehr ausgeklügeltes System. Manchmal tarnen sich diese Leute als Ukrainer. Wie man es bekämpft? Nun, als wir Wahlkämpfe führten, haben sie uns auch ins Visier genommen. Doch es ist sehr einfach herauszufinden, wer sie sind, sofern man will. Es war genug, eine Person mit dieser Aufgabe zu betrauen, weil diese Typen sich natürlich auch an normale Bürozeiten halten, Mittagspause machen. Sie verwenden teils sogar dieselbe IP-Adresse. Das sieht man. In Europa und den Vereinigten Staaten will aber offensichtlich kaum jemand diesen Job machen. Niemand gibt den Auftrag, dagegen anzukämpfen – gelegentlich unter dem Argument der Redefreiheit. Aber das stimmt nicht. Wenn Menschen in Bürogebäuden in Moskau die Kommentare im Namen der Österreicher schreiben, ist es nicht Redefreiheit, sondern die Freiheit, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Und niemand sollte diese Gelegenheit haben.

STANDARD: Kommentare unter Ihren Youtube-Videos sind großteils positiv. Sie erhalten viel Unterstützung. Wie groß ist diese Opposition gegen Putin wirklich?

Katz: Dieser Widerstand ist sehr groß. Etwa 30 Prozent der Russen sind gegen den Krieg und Putin, selbst laut offiziellen Angaben, obwohl sie wissen, dass es illegal ist, diese Meinung zu vertreten, und sie dafür bis zu zehn Jahre im Gefängnis landen könnten. Bei Straßenumfragen in Moskau würde diese Zahl wohl bei 50 liegen, in kleineren Städten bei 20. Könnten wir normale, freie Wahlen abhalten, mit echten Diskussionen und freien Medien, wo alle ihre Argumente vorbringen, hätte Putin keine Chance. Das Problem in der russischen Gesellschaft ist, dass alle glauben, ihr Nachbar sei pro Putin. Das ist diese Informationsautokratie. Sie schaffen es, alle glauben zu lassen, dass alle dafür sind. Und auch die Ukraine – die einen heldenhaften, bewundernswerten Verteidigungskrieg um ihr Überleben führt – propagiert, dass alle in Russland für diesen Krieg sind. Bis alle glauben, es sei die Realität. In Wahrheit haben aber viele nur Angst vor der Regierung. Sie tun so, als würden sie der Regierung glauben, fürchten sich aber eigentlich vor ihr. Sei es bei der Verpflichtung zum Wehrdienst oder bei Impfstoffen. Sie plappern auch Putin nach, dass der russische Impfstoff der beste sei, wollen ihn sich aber selber nicht spritzen lassen. Die Angst vor der Regierung ist historisch gewachsen.

STANDARD: Dennoch haben nun einige Tausend Menschen demonstriert. Werden die Proteste größer werden oder erneut vom Sicherheitsapparat zerschlagen werden? Wie groß müsste eine kritische Masse sein, wer müsste aus Putins innerem Kreis herausbrechen?

Katz: Wenn Sie aktuell in Russland protestieren, kommen Sie mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis. Und in Polizeistationen teilen sie Einschreibformulare für die Armee aus. Dennoch wird weiterdemonstriert. Es ist weniger ein Akt, um etwas zu ändern, sondern einfach, um nicht tatenlos zuzusehen. Aber was könnte es ändern? Eine gute Zeit, Diktatoren zu stürzen, ist zu Beginn ihrer Herrschaft, wie es die Ukrainer mit Wiktor Janukowytsch gemacht haben, oder am Ende ihrer Diktatur, wie es in der Sowjetunion geschah, oder eben, wenn sie wackeln.

Werbeeinahmen und Spenden finanzieren das Team und die Arbeit von Maxim Katz.
Максим Кац

STANDARD: Aber wackelt Putin?

Katz: Aktuell nicht, nein. Er sitzt fest im Sattel. Aber das wird sich ändern. Weil er schon bald keine gute Strategie mehr haben wird. Nach den Verlusten an der Front in Charkiw hat er die Teilmobilmachung angekündigt. In ein oder zwei Monaten werden die Leute aber sehen, dass sich nichts geändert hat. Dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann. Wenn er dann zu wackeln beginnt, wird es riesige Demonstrationen geben. Allerdings nicht, solange die Leute wissen, dass sie eingesperrt werden. Auch in Österreich würden da nicht viele demonstrieren gehen. Auch wenn sie wüssten, dass es eigentlich das Richtige wäre. Aber die Veränderung wird kommen.

STANDARD: Wie viel von der politischen Opposition ist heute noch übrig in Russland?

Katz: Seit 2003 gibt es keine parlamentarische Opposition mehr. Darum hat sich Putin gekümmert. Die ranghöchste Oppositionsfigur sitzt im Moskauer Parlament. Die alte liberale Partei Jabloko ist schwach, hat nur in der Moskauer Duma vereinzelte Abgeordnete. Es gibt also keine formelle Opposition. Und aus diesem Grund scheint es keine Hoffnung zu geben, denn wenn Sie es beispielsweise mit den Protesten in der Ukraine 2014 vergleichen, wo es ein Parlament halbvoll mit Oppositionellen gab, wo sie auf Kundgebungen sprechen konnten – wenn es all das nicht gibt, ist es deutlich schwieriger, eine Alternative zu haben. Alle sind geflohen, inhaftiert oder bleiben still.

STANDARD: In Europa gibt es Diskussionen über die Schengen-Visa für russische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Die Finnen und baltische Staaten wollen einen restriktiveren Umgang.

Katz: Viele Politiker stellen diese Schengen-Visa als Touristenvisa dar. Reiche Oligarchen und deren Ehefrauen würden nach Saint-Tropez oder in Skiressorts fahren. Aber die haben alle ihre Reisepässe. Sie bestellen sie sich um 150.000 Dollar im Internet und brauchen sich ein Leben lang nicht mehr um Visaanträge kümmern. Leute wie ich oder meine Frau brauchen diese Schengen-Visa. Vier Stunden nach der Entscheidung zu gehen war sie sicher in Finnland. Für Oppositionelle, Kriegsverweigerer oder Journalisten ist das Schengen-Visum der beste Freund. Denn wenn dich die Polizei zu sich bittet, kann es sein, dass du in einer Stunde oder zehn Jahren wiederkommst. Ich verstehe nicht, wie westliche Länder, die die Menschenrechte als Grundlage ihrer Lebensphilosophie haben, diese Menschen nicht hereinlassen können. Ich verstehe es nicht. Einige argumentieren, man könne Asyl beantragen. Asyl bedeutet aber immer, alle Verbindungen zu seiner Heimat abzubrechen. Dabei geht es doch viel eher darum, in einer grenznahen Region in einem billigen Hotel darauf zu warten, ob ein Strafverfahren gegen dich eröffnet wird oder nicht. Wenn ja, fragst du um Asyl, wenn nicht, gehst du zurück zu deinen Eltern, deiner 85-jährigen Großmutter.

STANDARD: Wie weit wird Putin gehen?

Katz: Das lässt sich nicht sagen. Ein Nuklearwaffeneinsatz scheint absolut verrückt. Aber 2022 einen Krieg mitten in Europa zu beginnen sah auch absolut verrückt aus. Niemand hat es geglaubt. Auch als die US-Geheimdienste warnten. Kaum jemand rechnete mit einer Mobilmachung, weil es an den Grundfesten seines Regimes rüttelt. Dennoch hat er es gemacht. Er ist verzweifelt. Er hat keine Exitstrategien, er kann es mit militärischer Macht nicht gewinnen. Die Ukraine wird verständlicherweise nicht aufgeben.

Rund 390 Millionen Views hat er bereits auf seinem Kanal.
Максим Кац

STANDARD: Was kommt nach Putin?

Katz: Ich denke, Russland muss ein reguläres europäisches Land werden. Es gibt keinen anderen Weg. Die Russen sind Europäer – vor allem in großen Städten. In Meinungsumfragen zu Werten vor Kriegsbeginn waren diese nicht großartig anders als in den anderen osteuropäischen Ländern. Ich hoffe und werde dafür kämpfen, dass es eine liberaldemokratische Regierung gibt, die die notwendigen Reformen durchführt, die Dinge reparieren wird, sodass Russland ein normales Land werden kann.

STANDARD: Aber wird nach Putin das System Putin einfach so zusammenbrechen, oder wird ein zweiter Putin nachkommen, zum Beispiel Dmitri Medwedew?

Katz: In solchen Regimen gibt es keine Nummer zwei. Wenn es eine Nummer zwei gibt, geht sie ins Gefängnis. Sie haben also keinen Plan für die Zeit danach. Es wird ein großer Kampf von Bulldogs unter dem Teppich. Keiner wird mehr so mächtig wie Putin, er kontrolliert alles. Ich denke nicht, dass das russische Volk in freien Wahlen nochmals für jemanden wie Putin stimmen würde. Sie wollen Militärs und ehemalige KGB-Leute nicht mehr an der Macht sehen. Sie wollen Professoren, Intellektuelle an der Macht. (Fabian Sommavilla, 24.9.2022)