Nicole Adamowitsch muss derzeit viel Geld für Sprit ausgeben. Auf Öffis könne sie kaum umsteigen.

Foto: Heribert Corn

Nicole Adamowitsch sah ihr Auto lange Zeit als Chance: für einen neuen Job, einen Familienurlaub oder ein Treffen mit Freunden in der Stadt. Nun mache ihr das Auto Angst, sagt sie. Wie vor einigen Tagen, als sie vor Arbeitsbeginn den Zündschlüssel drehte und der Motor nicht ansprang. Binnen Sekunden schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn das Auto kaputt ist? Könnten wir uns eine Reparatur leisten?

Denn ohne ihr Auto hätte Adamowitsch ein Problem. Von ein Uhr früh bis sechs Uhr früh muss sie damit durch Wien und Niederösterreich fahren, um sicherzustellen, dass Zeitungen richtig zugestellt werden. 1600 Kilometer legt sie jeden Monat für die Arbeit zurück. Doch das Kilometergeld, das sie pro Monat bekommt, reiche wegen der hohen Spritpreise nicht mehr aus, um die Kosten zu decken. Nun müsse sie aus eigener Tasche dazuzahlen. "Ich arbeite mich arm", sagt Adamowitsch.

Viele Sorgen

Hinzu kommen die Ausgaben für die gestiegenen Betriebskosten ihrer Wohnung im 23. Bezirk in Wien, für die Schulsachen ihrer sechsjährigen Tochter und für den Wochenendeinkauf, der bei gleicher Menge früher 80 und nun 120 Euro koste. Abends lasse sie das mit Sorgen einschlafen und morgens wieder mit Sorgen aufwachen, sagt Adamowitsch. "Wir waren früher guter Mittelstand. Jetzt stehen wir auf der Kippe."

Die Angst, dass immer weniger vom eigenen Geld und Wohlstand bleibt, treibt im Moment viele Menschen um. Die Inflation ist mit 10,5 Prozent so hoch wie seit 1952 nicht mehr, vor allem Treibstoffe, Haushaltsenergie, Nahrungsmittel und Gastronomie sind empfindlich teurer geworden. "Haushalte mit mittleren Einkommen haben derzeit noch höhere Inflationsraten, weil sie anteilig mehr Geld für Sprit ausgeben und die Spritpreise stark gestiegen sind", sagt Sebastian Koch, Wissenschafter am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Sprengt die Inflation die Sicherheiten der Mittelschicht?

Angst vor dem Abstieg

Offiziell gehören laut OECD all jene Haushalte zur Mittelschicht, die mehr als die unteren zwanzig Prozent der Haushalte und weniger als die oberen zwanzig Prozent pro Jahr verdienen. In Österreich bedeutete das 2019 ein Jahreseinkommen von rund 19.000 bis 38.000 Euro netto, abhängig davon, wie viele Kinder und andere Personen im Haushalt leben.

76 Prozent der österreichischen Bevölkerung zählen zur Mittelschicht – ein Wert, der seit zehn Jahren ungeachtet der ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen ziemlich stabil ist, wie Studien zeigen. Wie groß die Angst vor dem Abstieg ist, verraten diese Zahlen jedoch nicht.

Geld sparen, wo es geht

"Ich dachte immer: Wenn du fleißig bist, kannst du dir am Ende alles leisten", sagt Adamowitsch. Die 41-Jährige ist in einer Arbeiterfamilie groß geworden, ebenso wie ihr Mann, mit dem sie sich in den vergangenen Jahren das Geld für die Wohnung und einen kleinen finanziellen Polster angespart hat.

Guter Mittelstand – das bedeute für sie, nach "Gusta" einkaufen zu gehen, nach Belieben Urlaube rauszusuchen und sich durch seine Arbeit etwas zu gönnen. "Diese Unbeschwertheit ist nun dahin. Jetzt müssen wir aufpassen, dass wir das, was wir haben, überhaupt noch halten können", sagt Adamowitsch.

Um Geld zu sparen, schalte sie ihren Wäschetrockner nicht mehr ein, lasse ihr Auto in der Freizeit öfter stehen, kaufe mehr Billigmarken im Supermarkt und weniger Gewand, mache weniger Urlaube. Auf Skifahren oder einen Thermenaufenthalt werden sie und ihre Familie dieses Jahr komplett verzichten, sagt sie. Notfalls werde sie sich zusätzlich zu ihrem Vollzeitjob einen Nebenjob suchen. "Aber was, wenn im Winter alles noch teurer wird?"

Stromrechnung um das Doppelte gestiegen

Auch Anna Kaller bereiten die Heizkosten und die Inflation Sorgen. Den Spalt unter der Balkontür, durch den sonst die kalte Luft ins Wohnzimmer der sanierten Altbauwohnung zieht, hat sie mit einem Handtuch abgedeckt. Daneben baut sich ihr vierjähriger Sohn mit den Polstern der Couch gerade eine Höhle. "Unsere Gastherme spinnt", sagt Kaller und führt in die Küche, in der die Therme hängt. "Wahrscheinlich ist der Druck zu niedrig." Die Stromrechnung sei bereits um fast das Doppelte gestiegen. Auch die Gasrechnung werde wohl deutlich höher ausfallen, fürchtet sie.

Kaller, die eigentlich anders heißt, unterrichtet 18 Stunden pro Woche als Begleitlehrerin an einer Volksschule in Wien, mit der Vor- und Nachbereitung sei sie dort 30 Stunden beschäftigt. Ihr Freund und Kindesvater arbeitete zuvor bei Amazon – bis er nach einer zweiwöchigen Pflegefreistellung und Krankenstand gekündigt wurde und nun als Leiharbeiter tätig ist. Von dem Geld, das sie gemeinsam pro Monat verdienen, bleibe im Moment nichts übrig, sagt Kaller.

Konsum umstellen

Im Supermarkt greife sie deshalb weniger zu Bioprodukten. Die Urlaube habe sie größtenteils nur noch auf Familienbesuche beschränkt. Auch der Wunsch der 37-Jährigen, sich eines Tages ein Haus im Grünen zu leisten, sei mittlerweile in weite Ferne gerückt. Trotzdem sieht sich Kaller weiter als Teil der Mittelschicht: "Wir haben im Grunde alles, was wir brauchen." Vielleicht sei es auch gar nicht schlecht, wenn der Konsum ein wenig zurückgehe und damit weniger "Unnötiges" gekauft würde, sagt Kaller.

Wie stark Haushalte von den Preissteigerungen betroffen sind, hängt auch davon ab, wie leicht sie ihren Konsum umstellen können, sagt Koch: zum Beispiel, ob sie vom Auto auf Öffis oder von Markenprodukten im Supermarkt auf billigere Eigenmarken wechseln können.

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"Ich würde gerne mein Auto verkaufen", sagt Adamowitsch. Aber dann müsse sie sich auch einen neuen Job suchen. Denn mit den öffentlichen Verkehrsmitteln könne sie in der Nacht nicht sicher und schnell genug durch die Stadt fahren. Auch ein Umzug in eine günstigere Wohnung komme derzeit nicht infrage. Ihre 120 Quadratmeter große Wohnung koste sie mitsamt den Betriebskosten rund 1500 Euro im Monat. "Einen gewissen Standard will man aber nicht aufgeben", sagt sie.

Keine Alternativen

Wo die Mittelschicht theoretisch noch auf günstigere Alternativen ausweichen kann, um die Inflation abzumindern, sieht es bei Haushalten mit geringeren Einkommen meist schlechter aus, sagt Koch. Sie geben anteilig häufig mehr für die Deckung der Grundbedürfnisse, wie etwa für Nahrungsmittel oder Mieten, aus. Wer bereits billige Lebensmittel einkaufe, könne diese auch nicht mehr ersetzen. Diese Menschen seien der Teuerung daher auch stärker ausgesetzt.

Wie etwa Amira Yasek, die gerne umziehen würde. Ein Grund dafür ist jener schwarz-graue Schimmelfleck an ihrer Decke, auf den sie nun mit dem Finger zeigt. "Das war einmal ein kleiner Punkt, der aber immer größer geworden ist." Durch den Schimmel habe ihr sechsjähriger Sohn, mit dem sie dort lebt, schon einmal starken Husten bekommen, sagt Yasek, die ihren wahren Namen nicht nennen möchte. Seit kurzem ist auch die Waschmaschine kaputt, ihre Wäsche wäscht sie seither bei einer Nachbarin.

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Ersparnisse fehlen

Ersparnisse für einen Umzug aus der geförderten Wiener Wohnung hat sie momentan nicht. Von den rund 1150 Euro, die sie durch die Mindestsicherung und Familienbeihilfe bekomme, bleibe am Ende des Monats nichts übrig: vor allem seit das Einkaufen beim Hofer, die Betriebskosten ihrer Wohnung und die Schulsachen für ihren Sohn teurer geworden seien, sagt Yasek.

Amira Yasek würde gerne umziehen. Aber ihre Ersparnisse seien derzeit aufgebraucht.
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"Ich denke oft: Morgen wird alles leichter werden." Dann möchte sie ihrem Sohn ein eigenes Bett kaufen, damit er nicht mehr auf der Matratze auf dem Boden schlafen muss. Und vielleicht einen eigenen Kasten, in dem seine Stofftiere, Decken und Westen, die noch in den Umzugkartons liegen, Platz finden.

Hoffen auf bessere Zeiten

"Wir müssen in Zeiten hoher Inflation vor allem jene Menschen unterstützen, die in die Armut abzurutschen drohen", sagt Koch. Etwa mit Direktzahlungen an betroffene Haushalte oder Anpassung der Sozialleistungen. Würde das Geld per Gießkannenprinzip an breite Bevölkerungsgruppen fließen, könnte das über eine höhere Nachfrage wieder zu höheren Preisen führen, sagt Koch.

Adamowitsch hofft jedenfalls, dass bald wieder "Zeit zum Durchschnaufen" bleibt. Ein wenig Erspartes habe sie noch. Aber "etwas Großes" dürfe nicht mehr passieren. Neulich fuhr sie in ein Radar und musste 55 Euro Strafe zahlen. "Das wäre ein neues Paar Stiefel für meine Tochter gewesen", sagt sie. In den nächsten Tagen kommt dann wieder die Rechnung für die Fernwärme. "Vor der fürchte ich mich schon." (Jakob Pallinger, 1.10.2022)

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Rechenbeispiel: Familie Schmidt
Mutter Andrea verdiente 2021 als Volksschullehrerin im 25 Kilometer entfernten Ort 25.000 Euro netto, inklusive Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Die kleine Pendlerpauschale bringt ihr rund 300 Euro. Ihr Ehemann Bert arbeitet unregelmäßig als selbstständiger Grafikdesigner. Nach seiner Steuererklärung blieben ihm im Vorjahr 12.000 Euro netto. Für ihre elfjährige Tochter Christina bezog das Paar staatliche Familienunterstützung in Höhe von 2.400 Euro. Christina hat zum Geburtstag 300 Euro von der Oma bekommen. Der dreiköpfige Haushalt kam 2021 also auf 40.000 Euro. Damit hatte die Familie Schmidt ein aufgeschlüsseltes Haushaltseinkommen von gut 22.000 Euro. Die Schmidts zählten damit zur unteren Mittelschicht.