Foto: "Steven Natusch - What will be different Tomorrow?", 2022

Es gibt einen Ort, an dem fließen alle Ungewissheiten der Welt zusammen, und so unwahrscheinlich es auch klingen mag, aber dieser Ort liegt in Berlin-Kreuzberg. Die Mündung ergießt sich im vierten Stock, misst mittelbescheidene 77 Quadratmeter, ist jedoch in relativen Zahlen der prächtigste Pfusch der Stadt.

Ein Haus zu bauen, oder wie in meinem Fall: eine Wohnung auszuweiden, ist von jeher das Armageddon des sesshaften Menschen, eine endzeitliche Schlacht, die alle Kraft raubt und gleichzeitig neue freisetzt; unzählige Insolvenzen zeugen davon und auch einige Trennungen. Baute man aber vor dreißig Jahren ein Haus, wie zum Beispiel meine Eltern in Tirol, gab es bestimmte Spielregeln – im Grunde waren es zwei –, und hielt man sich an sie, schlief man abends erschöpft, aber ruhig ein: Was man selbst erledigen konnte, erledigte man selbst. Vermochte man etwas nicht, gab man jemandem Geld, der es tat.

Den Keller betonierten meine Eltern im September, im Winter verlegten sie Rohre, und im Frühling deckten sie das Dach. 360 Tage nach dem ersten Spatenstich zogen sie ein.

Der Maurer sprach mit dem Installateur, der Elektriker mit dem Trockenbauer und der Fliesenleger mit dem Tischler. So wurde weder der Hauptwasserhahn zugemauert, noch riss jemand in der Annahme, sie wären alt, die frisch gezogenen Kabel aus der Wand. Auch wurden keine Rigipsplatten aufgesägt, weil der Waschtischunterbau an der falschen Stelle stand. Ich kenne das anders.

Wer heute baut, bekommt eher einen Termin beim Kanzler als bei einem Installateur. Elf Wochen harren Kunden durchschnittlich auf einen Handwerker, 16 auf einen Bauhandwerker. Hat man einen, umgarnt man ihn nach seinen Möglichkeiten und bezahlt einen Stundenlohn, der willkürlich erscheint, aber stets höher ist als der eigene. Je länger man auf einen Handwerker wartet, desto fantastischer die Differenz: Mir fallen nur eine Handvoll Freunde ein, deren Arbeitgeber einen Inflationsausgleich zahlt oder nach Tarif.

Wartezeiten

Inzwischen, vier Monate sind vergangen, habe ich alle Gewerke beisammen. Manchmal tauchen einzelne Arbeiter für zwei, drei Wochen ab, wenn lukrativere Aufträge des Weges kommen. Das ist, so erzählen mir Bauherrenbekannte, aber völlig normal. Fragen sie mich, wann ich plane einzuziehen, zucke erst ich mit den Achseln, dann sie, und wir reden über einen Tweet oder so.

Ist die Baustelle besetzt, gleicht sie dem Turmbau zu Babel. Zwar sprechen alle Arbeiter eine Sprache, aber es wirkt, als baue jeder eine andere Wohnung. Der Elektriker kommt bei der Tür herein, blickt auf die Decke und wirft die Hände über dem Kopf zusammen, der Trockenbauer wirft sie hoch ob der Installationen und so weiter. Es scheint eine Art Konsens zu bestehen, die Kritik der anderen geduldig anzuhören, aber auf keinen Fall umzusetzen.

Foto: Steven Natusch - What will be different tomorrow? 2022

Schon allein aus einem Schamgefühl heraus, erzählt mir mein Vater am Telefon, war ein derartiger Pfusch früher undenkbar. Er und ich telefonieren jetzt regelmäßig. Denn natürlich haben weder meine Freunde noch ich eine Ahnung von irgendwas. Wir sind gut im Schauen und Blättern. Als hätten wir uns für eine Zukunft gebildet, die jetzt doch nicht eintritt (mit derartig meinte mein Vater die ungedämmten Rigipswände meiner Toilette; sie liegt direkt neben der Küche).

Am erstaunlichsten finde ich, wie einst die Materialbeschaffung ablief. Brauchte er einen Sicherungskasten, schildert mein Vater, kaufte er einfach einen. Heute sind Baustoffe rar und die Preise beerdigend. "Aufgrund der aktuell weltweiten Lieferverzögerungen", lese ich bei meinem täglichen Check auf ikea.com, "kommt es derzeit teilweise zu Einschränkungen bei der Verfügbarkeit unserer Produkte." Besonders gefragt sind Artikel, von denen sich Menschen versprechen, Energie zu sparen. Holzöfen: auf Monate ausverkauft. Brennholz: das neue Klopapier. Mein Schornsteinfeger antwortete auf die Frage, ob ein Kaminanschluss in meiner Wohnung grundsätzlich möglich sei, gar nicht erst. Angesichts der Feinstaubbelastung wahrscheinlich eh besser.

Mit "teeange angst" wachliegen

Und so denke ich an die Baustelle, bevor ich einschlafe, ich denke an sie, wenn der Wecker klingelt, und schrecke ich des Nachts auf, gehe ich im Kopf den überschwemmten Grundriss durch: Im Bad ergießt sich der Fachkräftemangel, im Flur entzweit sich die Gesellschaft, in die Küche plätschern Lieferengpässe, im Heizkeller steigt der Krieg, und hinter dem Heizkörper tropft der Klimawandel. Ich liege wach mit "teenage angst" und frag mich, wie das mein Zuhause werden soll, wie meine Generation in dieser Ungewissheit leben, vor allem wie sie denken kann, ohne durchzudrehen.

Ein paar Taktiken machen schon die Runde. Waren Tiktok und Instagram früher voll mit "Heroin Chic", herrscht jetzt dort die "Clean Girl Aesthetic": aufgeräumte Frauen, die jedes fliegende Haar und auch sonst alles in ihrer Macht Stehende unter Kontrolle zwingen. Ein junger Mann erzählte mir kürzlich, jeden Tag um fünf Uhr aufzustehen und dann drei Stunden später mit der Arbeit zu beginnen, nach Meditation, Yoga und einem langen Spaziergang, bei dem er möglichst viel in Baumwipfel schaue.

Foto: Steven Natusch - What will be different tomorrow? 2022

Sämtliche meiner Freundinnen haben mittlerweile Morgenroutinen. Sie werden immer komplexer, immer länger und mutieren, sollte sich die Welt nicht bald runder drehen, allmählich zu Vormittagsroutinen. Manche manifestieren sich eine klimaneutrale Zukunft, andere affirmieren einen Partner ohne Bindungsängste herbei. Bei den meisten Praktiken geht es darum, sich zu grounden. Ich habe mein 250-Euro-Fahrrad gegen Diebstahl gesichert und schreibe jeden Tag Morgenseiten: drei Seiten "stream of consiousness", egal, wie viel oder wenig passiert, um mir am nächsten Tag zumindest gewiss zu sein, was ich einen Tag zuvor gedacht habe.

Paradoxerweise ist das Beständigste in meinem Leben der Kredit für die Wohnung. Flüsse mögen weichen und Gletscher schmelzen, aber die Ing-Diba wird auch in drei Jahrzehnten noch an meiner Seite stehen. Lieber würde ich mein Gehalt für Reisen verprassen. Aber ich bezweifle, später eine Rente zu bekommen, von der ich leben kann, geschweige denn innerhalb des S-Bahnrings. Dass ich angestellt bin und mir deshalb eine Bank Geld leiht, ist tröstlich und beschämend zugleich.

Untertags dann eliminiert meine Altersgruppe alle Mikroungewissheiten: Wir checken im Büro, was der Vietnamese mittags kocht, verfolgen live, durch welche Straße der Paketbote fährt, schauen Netflix statt fern und wählen beim Pharmaversand die Gratisproben selbst, statt uns der Willkür der Apothekerin auszuliefern. Wir bekommen, was wir erwarten.

Jede Zelle in mir sträubt sich. Aber nachdem nun ausreichend gewürdigt ist, wie schlimm doch alles ist: Es gibt noch eine andere Option als halb Chaos, halb Pedanterie. Sie kam mir irgendwann, als ich einfach zu müde war, um weiterzugrübeln. Ich nenne sie Halb-Chaos-halb-Chaos-Strategie. Andere nennen sie Serendipity.

Serendipity

Im persischen Märchen Die drei Prinzen von Serendip (heute Sri Lanka) schickt ein König seine schlauen, potenziell aber überbehüteten Söhne auf Reisen. Unterwegs fragt ein Händler die drei, ob sie sein entlaufenes Kamel gesehen hätten. Nein, sagen sie. Aber ob es zufällig hinke? Ob es auf der einen Seite Butter trage und auf der anderen Honig? Und fehle ihm ein Zahn? Sofort bezichtigt der Händler die Brüder, das Kamel gestohlen zu haben, so akkurat ist ihre Beschreibung. Tatsächlich aber waren sie beim Wandern nur aufmerksam und haben Hinweise miteinander verbunden: drei Hufenabdrücke und eine Schleifspur im Sand; Grasbüschel, die dem Tier aus dem Maul gefallen sind; Bienen, die auf der einen Straßenseite an der Fracht getrunken haben und Ameisen auf der anderen. Das Kamel taucht schließlich wieder auf, und die Prinzen ziehen weiter. Dabei stoßen sie laufend auf Unverhofftes – nicht immer das Gesuchte, aber immer etwas, das ihnen weiterhilft.

Foto: Steven Natusch - What will be different tomorrow? 2022

Dieses Phänomen der unerwarteten Entdeckung heißt Serendipity. Kein blindes Glück, sondern der Zufall, der laut Pasteur den vorbereiteten Geist begünstigt. Penizillin wurde so erfunden und Post-its, Viagra und der Klettverschluss. Glück passiere, so formulierte es wiederum Seneca, wenn Vorbereitung und Gelegenheit zusammentreffen.

Was Ersteres angeht, habe ich bei meiner Generation keine Bedenken. Ich aber zumindest unterschätze oft, wie wahrscheinlich das Unwahrscheinliche ist: Muss ich tippen, ob von 50 Personen zufällig zwei oder drei am gleichen Tag Geburtstag haben, winke ich ab. Dabei liegt die Wahrscheinlichkeit bei 97 Prozent.

Haken auswerfen

Seitdem ich das "Geburtstagsproblem" kenne und weiß, dass wir zu oft linear denken statt exponentiell, erwarte ich den Zufall regelrecht. Ich werfe kleine Haken aus, wo auch immer es geht, Körner, damit das Vogerl namens Glück gierig oft wiederkommt: Ich klage im Büro, dass mich ein Handwerker ghostet. Ein Arbeitskollege erzählt es dann einer Freundin, die es dann ihrem Elektriker erzählt, der wiederum zufällig einen Fliesenleger kennt, der jetzt Mitte Oktober mein Bad macht.

Unser Körper reagiert auf Ungewissheit mit Stress: Er zieht Energie von irgendwo her und pumpt es in den Kopf. Wir fühlen uns dann wackelig auf den Beinen, aber unser Gehirn, der vielleicht magischste Ort der Welt, findet neue Wege. Meines konnte so zwar keinen freien Parkplatz zaubern für den Baucontainer, der Stunden zu früh auf einem piependen Transporter die Straße verstopfte, aber hinter einer Autoscheibe entdeckte es eine Handynummer. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit – es war noch nicht mal 7.00 Uhr früh – fuhr kurz darauf ein Nachbar im Pyjama sein Auto weg. (Sara Geisler, 25.9.2022)