Bei Shakespeare wissen wir, dass die Geschichte mit den zwei Veroneser Verliebten nicht gutgehen wird. Doch im Fußball kann wie hier im "Theatre of Dreams" von Manchester alles passieren.

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Jedes Dorf hat seinen Fußballplatz. Jeder Fußballplatz hat seine Zuschauer. Wochenende für Wochenende machen sich viele Tausende dorthin auf den Weg. Sogar hierzulande, in dem kleinen, ansonsten so wenig schausportaffinen Österreich. Sie wollen hoffen, bangen, recht haben, falsch liegen. Sie wollen sich fürchten vor dem Bitteren, das droht; überraschen lassen von dem Unverhofften, mit dem keiner gerechnet hat. Wollen schimpfen und schreien und schallend lachen, wenn es denn nur den geringsten Anlass dazu gibt. Still in sich hineinweinen auch. Und ein paar wollen auch handgemein werden. Ein paar andere über den armen Schiedsrichter herziehen und ihn bei ein, zwei (soll sein drei) Bier nameln.

Doch warum tun die Menschen das, wurde einst Sepp Herberger gefragt. Herberger, einer der großen, weisen Philosophen des 20. Jahrhunderts, erwiderte: "Die Menschen gehen zum Fußballspiel, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht." Das ist fundamental anders als im immergleichen Repertoiretheater. Jeder, der einer noch so aufregenden Shakespeare-Inszenierung beiwohnt, weiß von Anfang an, dass das mit den zwei Veroneser Verliebten nicht gutgehen wird. Und nach Salzburg pilgert man auch nicht, um zu erfahren, ob der Jedermann diesmal nicht doch überlebt. Man will sehen, mit welcher Grandezza er diesmal zu sterben versteht. Stilfragen sind das.

Das Eingemachte

Im Fußball – sinngemäß gilt das natürlich für alle Sparten des Schau-Sports – geht es dagegen immer ans Eingemachte. Alles kann nach dem Anpfiff passieren. Was, ist ungewiss. Das Drama und die dazugehörige Dramaturgie schreibt sich das Schauspiel selbst. Jedes Mal aufs Neue. Und jedes Mal aufs Neue neu. Denn es gilt: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.

Das Regelwerk ist nur die grobe Rahmenvereinbarung. Im Grunde ist es die Dichtmasse für die imaginierte, fürs Bühnenvolk blickdichte vierte Wand. Hinter ihr ist jedes Geschehen "als ob". Auch der Fußballrasen funktioniert ähnlich. Weltabgewandt. Nicht umsonst drehen die Zuschauer beim Fußballspiel dem Außerhalb den Rücken zu. Innerhalb des Stadions entsteht eine eigene Welt, welche die da draußen freilich spiegelt. Das eben ist der ästhetische Aspekt des Schau-Sports, der zu Beginn der sogenannten Moderne an die Seite des Schauspiels getreten ist.

Auch dort, auf den traditionellen Bühnen, wurlte es damals. Das herkömmliche Schauspiel schien auf einmal wie eine viel zu enge Jacke für die Betrachtung und Erwägung und Versuchung der so rasant sich verändernden, flirrenden Welt in den letzten geruhsamen Jahrzehnten vorm ersten Selbstmordversuch Europas.

Es waren nervöse, vielleicht lässt sich sagen überspannte Jahre. Jahre voller Unsicherheit, was kommen möge, nachdem nicht nur die k. u. k. Gründerzeit 1873 mit einem fulminanten Börsencrash zu Ende gegangen war. Wer es sich leisten konnte, litt an Neurasthenie. Wer noch besser gestellt war, suchte den Dr. Freud auf, der einem die Dreifaltigkeit der Seele – Über-Ich, Ich, Es – eventuell halbwegs zusammenflickte. Auf diese Jahre voll versponnener, teils realer, teils gefühlter Zukunftsängstlichkeiten schauen wir mittlerweile – erschreckenderweise – wie in einen Spiegel.

Die im 19. Jahrhundert so gründlich entgötterte Welt hatte damals endgültig die Ruhe verloren. Die Künste mit ihren aus- und ineinanderdriftenden Ismen schlugen aus, wie Seismografen das eben tun. "Zur Selbstverständlichkeit wurde" – so begann Theodor W. Adorno sein Opus magnum, die Ästhetische Theorie –, "dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht."

Der Dampf

Durch eine der geplatzten Kunstnähte quoll in den Jahren vor, aber dann so richtig nach dem Weltkrieg eine neue, vor allem die Jugend erregende Form des Schau-Spiels. Eine, die es offenbar schaffte, die ins Rutschen geratenen Verhältnisse im Wortsinn zu ventilieren. Auf den Fußballplätzen und den anderen Sportarenen ließ die Welt beinahe buchstäblich Dampf ab. Dort erlebten die im und vom Leben verunsicherten Menschen etwas, das im traditionellen Theater schon längst mit spitzen Fingern ad acta gelegt worden war als zu leibhaftig. Zu direkt. Zu ruppig.

Aristoteles hielt diese Katharsis – die reinigende seelische Erschütterung durchs Durchleben von Jammer und Schrecken, von Mitleid und Furcht – fürs Konstituierende der Tragödie. In der "modern" gewordenen Welt fand man solch kathartische Erlebnisse auf den Fußballplätzen, bei Pferde- und Autorennbahnen, bei den Boxwettkämpfen. In Wien – einem Zentrum der Schwerathletik – sogar bei den Gewichthebern in den Wirtshäusern. Die theatrale Katharsis fand sich jedenfalls abseits der distinguierenden Abendschulen der sittlichen Bürger, wie die Wiener Theaterwissenschafterin Hilde Haider die Tragödienaufführungen der deutschen Klassik einmal genannt hat.

In jeder Sportveranstaltung ist nichts angelegt außer der Spannung. Jedes Spiel – wahrscheinlich stammt diese Weisheit auch von Sepp Herberger – beginnt mit 0:0. Es ist gewissermaßen ein unbeschriebenes Blatt. Ungewiss, wie es verläuft und endet. Die Gewissheit entsteht erst im Verlauf und ist stets am Kippen. Man denke an das 2:1 im Champions-League-Finale von 1999, als Bayern bis zur 90. Minute 1:0 führte, Manchester United dann ausglich und drei Minuten später, als alle schon mit der Verlängerung rechneten, den Siegestreffer erzielte.

Natürlich, die Chancen sind normalerweise unterschiedlich gewichtet. Es gibt haushohe Favoriten, klare Außenseiter, den Heimvorteil und vieles andere, wie zum Beispiel die Tagesverfassung, das Momentum, den Lauf und in weiterer Folge den Spielverlauf. Allerdings – diese Weisheit kann nur von Ernst Happel oder Max Merkel stammen –, gestorben sind auch schon Hausherren. Dann gibt es einen Überraschungssieger. Der Überraschungsverlierer hat verkantet, war bei den Aufschlägen unkonzentriert, chancenlos gegen die Hand Gottes, die es ja – siehe nicht nur Manchester United vs. Bayern – auch gibt. Kommt es zu einem Remis, bleibt immer noch die Frage: Ist es ein gewonnener Punkt? Sind es zwei verlorene?

Die Trainingseinheit

Alle, die zum Fußball, zum Tennis, zum Skilauf oder -sprung gehen, kennen die Spielzustände unmittelbar auch aus eigenem Erleben als Lebenszustände. Selbst die so blumigen Anklagen gegen das Schiedsrichterwesen weiß man einzuordnen. Jedes Fußballspiel ist auch eine Trainingseinheit fürs Dasein. Auch im Leben wird, wir wissen es, mit zweierlei Maß gemessen. Welches aber gerade verwendet wird, weiß niemand. Das Leben steckt, wie jedes Spiel, voller unerwarteter Wendungen und – das stammt mit Sicherheit von Ernst Happel – "spezifiker Kontraattacks".

Das alte Theater mag "des sittlichen Bürgers Abendschule" gewesen sein. Der agonistische Schau-Sport ist ein Trainingsplatz des ja auch sich selber so ungewiss gewordenen Menschen der Moderne. Eine Art Vergewisserungs-Theater.

Erst Leid, dann Freud

Viele suchen ihre Gewissheiten auch in Fanzusammenhängen. Fans, das wissen nicht nur die Rapidler, müssen leidensfähig sein. Nur dann sind sie freudfähig. So diktierte es der 2020 viel zu früh verstorbene Mitbegründer der Rapid-Ultras, Rudolf Koblowsky, einmal hellsichtig dem Johann Skocek in den Notizblock. Koblowsky trug in sich ein tiefes, geradezu körperliches Misstrauen gegen Erfolgsläufe, denn "dauergeil, das geht nicht".

Der Versuch, so was herzustellen, kennzeichnet aber nun den Sport in der Postmoderne. Verbände, Vereine, Ligen trachten mit viel, viel, wirklich viel Geld danach, eine Art Dauergeilheit zu erzeugen. Aber die schaut nur so aus wie Erregung. In Wahrheit ist es eine peinvolle Krankheit. Bei Männern heißt sie Priapismus. Im Fußball Real oder Barça oder Bayern oder – ja, eh, im Zwergerlformat – Salzburg.

Wahrscheinlich kann man jetzt schon damit beginnen, das Sporttheater der Moderne retrospektiv zu beschreiben. Etwas Neues wird an dessen Stelle treten. Ungewiss, was. Vielleicht kann man es vorderhand dabei belassen, die Diagnose des eingangs erwähnten Theodor W. Adorno zur traditionellen Oper für den Sport sich zu veranschaulichen. Die Oper sei "ein vom Profit gesteuerter Betrieb geworden, der weiterläuft, solange er rentiert und durch Perfektion darüber hinweghilft, dass er schon tot ist". (Wolfgang Weisgram, 2.10.2022)