Osteuropa-Experte Ivan Krastev geht in seinem Gastkommentar der Frage nach, warum Russlands Präsident Wladimir Putin den Ukraine-Krieg begonnen hat.

Ist Wladimir Putins Entscheidung vom 21. September, eine militärische Teilmobilmachung auszurufen – im Übrigen die erste seit 1945 – ein Zeichen russischer Stärke oder Schwäche? Putins Obsessionen in Sachen Demografie lassen uns am besten verstehen, warum dieser Schritt ein Zeichen der Schwäche ist und warum der russische Präsident so lange damit gezögert hat.

Drei Merkmale des Krieges, den der Kreml seit sechs Monaten in der Ukraine führt, sind dabei von entscheidender Bedeutung: die Tatsache, dass Russland in der Ukraine nicht über genügend militärische Stärke verfügt; die Entschlossenheit des Kreml, allen Rufen nach einer Massenmobilisierung zu widerstehen; und Moskaus gewaltsame Umsiedlung von Ukrainern aus den besetzten Gebieten nach Russland. Was diese drei Merkmale gemeinsam haben und worüber sie Aufschluss geben, hat mit Demografie zu tun.

Was treibt den russischen Präsidenten Wladimir Putin?
Foto: Sputnik

Putins "Spezialoperation" beruhte ursprünglich auf der Annahme, dass die Russen keine große militärische Gewalt zum Einsatz bringen müssten, weil die Ukrainer sie als Befreier begrüßen würden. Das hat sich nicht bewahrheitet. Es stellt sich also die Frage, warum sich der Kreml weiterhin gegen eine Massenmobilmachung sträubt und warum er den Krieg mit unzureichender Personalstärke weiterführt.

Die Antwort darauf ist zum Teil politischer Natur – Putin gehört zu der Generation, die Russlands unrühmlichen Krieg in Afghanistan selbst erlebt hat, und er weiß, dass er, wenn die Söhne der neuen Mittelschicht zum Militär eingezogen und an die Front geschickt werden müssen, eine politische Gegenreaktion im eigenen Land riskiert und für einen Exodus der jungen Russen aus dem Land sorgt. Ein weiterer Grund für Putins Widerstand gegen die Massenmobilmachung liegt jedoch in seinen demografischen Ängsten.

Schrumpfende Nation

Russland ist eine schrumpfende Nation, und die Zahl der Todesopfer der Covid-19-Pandemie, die sich auf eine Übersterblichkeit von mehr als einer Million Menschen beläuft, hat die Befürchtungen angesichts dieser verhängnisvollen Entwicklung noch verstärkt. Insofern kämpft Russland wahrscheinlich zum ersten Mal in seiner Militärgeschichte als demografisch gefährdete Nation, die es sich nicht leisten kann, Soldaten zu verlieren, weil es unmöglich sein wird, sie zu ersetzen.

Dass die Angst vor dem demografischen Niedergang eine Obsession des russischen Präsidenten ist, wissen wir schon seit längerem. In einem Youtube-Video, das am 21. September 2021 veröffentlicht wurde, sprach er leidenschaftlich über eine Prognose, die vor über einem Jahrhundert abgegeben wurde. Er erinnerte daran, dass Russland dem berühmten russischen Chemiker Dmitri Mendelejew zufolge bis zum Jahr 2001 mehr als 500 Millionen Einwohner hätte haben sollen. Tatsächlich leben heute weniger als 150 Millionen Menschen dort. Um diese enttäuschende Diskrepanz zwischen Prognose und Realität zu erklären, schob ein zorniger Putin die Schuld dafür auf die bolschewistische Revolution, die das Russische Reich abschaffte und die Sowjetunion gründete, sowie auf die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs.

Waren die imperialistischen Kriege von gestern von der Befürchtung motiviert, die wachsende Bevölkerung könnte nicht über genügend natürliche Ressourcen verfügen, so ähnelt der Einmarsch Russlands in die Ukraine den "Trauerkriegen" zwischen den Indigenen Nordamerikas, die im 17. und 18. Jahrhundert vergeblich versuchten, ihre radikal schrumpfende Zahl durch die Verschleppung von Frauen und Kindern von benachbarten Stämmen zu kompensieren.

Der eklatante Bedarf an Menschen ist ein plausibler Grund dafür, dass Russland im Krieg in der Ukraine in großem Umfang Kinder, insbesondere Waisen, verschleppt hat. Im Juli dieses Jahres hat US-Außenminister Antony Blinken Russland vorgeworfen, es habe schätzungsweise 900.000 bis 1,6 Millionen ukrainische Bürger, darunter 260.000 Kinder, gewaltsam aus ihrer Heimat nach Russland deportiert.

Vergeblicher Versuch

Diese außergewöhnliche und entsetzliche Massenentführung ist ein wichtiger Anhaltspunkt dafür, den Krieg als vergeblichen Versuch Putins zu begreifen, dem unaufhaltsamen Schrumpfen der russischen Bevölkerung dadurch entgegenzuwirken, dass die vierundvierzig Millionen Einwohner der Ukraine in die Russische Föderation eingegliedert werden.

"Glauben Sie immer noch, dass wir ‚eine Nation‘ sind?", fragte Präsident Wolodymyr Selenskyj in dem Moment, als ukrainische Soldaten die russische Grenze in der Region Charkiw erreichten. Präsident Putin kennt jetzt die Antwort. Er hat erkannt, dass er entweder die Mobilmachung verkünden und die junge Generation Russlands vernichten muss oder den Krieg endgültig verlieren wird. Also hat er sich für die Mobilmachung entschieden. Und diese seine Entscheidung ist der beste Beleg dafür, dass der Krieg sich nicht wie vom Kreml geplant entwickelt hat. (Ivan Krastev, 24.9.2022)