In Catherine Beltons 2020 erstmals erschienenem und vielfach ausgezeichnetem Buch "Putins Netz" zeichnet die frühere Moskau-Korrespondentin der britischen "Financial Times" detailliert den Aufstieg Wladimir Putins vom KGB-Agenten zum beinahe unumschränkten Alleinherrscher im Kreml nach. Im Interview mit dem STANDARD erklärt sie, warum es mit Putins Macht nun aber schnell zu Ende gehen könnte.

STANDARD: Ihr Buch beschäftigt sich mit dem Netzwerk, das Putin an die Macht gebracht hat. Wie einsam ist es nun um ihn geworden?

Belton: Putin hat sich in den zwei Jahren der Pandemie immer mehr isoliert. Sogar seine engsten Berater wie Igor Setschin, der Falke an der Spitze des Kreml-nahen Ölkonzerns Rosneft, mussten sich zwei Wochen lang isolieren, bevor sie ihn treffen durften. In dieser Zeit hat Putin eine Obsession entwickelt, was seine Rolle in der Geschichte betrifft. Leute, die ihn treffen durften, haben ihm nur gesagt, was er hören wollte. So ist auch die Fehlkalkulation entstanden, dass man die Regierung von Wolodymyr Selenskyj in wenigen Tagen stürzen kann, indem man in der Ukraine einmarschiert. Nach Kriegsbeginn hat sich ein Teil der russischen Elite angesichts der massiven Propaganda, es gehe um die Existenz Russlands, um Putin versammelt. Weil Russland nun Positionen im Osten der Ukraine aufgeben und Putin seine "Teilmobilisierung" ankündigen musste, beginnt diese Einheit zu bröckeln.

Bestsellerautorin Catherine Belton.
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STANDARD: Sehen Sie irgendeinen Hinweis auf eine Palastrevolte?

Belton: Ja. Manche in der russischen Elite erinnert die aktuelle Situation an die Jahre vor der Revolution von 1917, als das Militär nach einer Serie von Fehlschlägen den Zaren nicht mehr unterstützen wollte. Putins Legitimität als Präsident basiert auf seiner Popularität. Indem er sein eigenes Versprechen, keine Reservisten in den Krieg gegen die Ukraine zu schicken, jetzt brechen musste, unterminiert er die Basis seiner Macht. Wenn russische Familien bald mit der grimmigen Realität von Putins Krieg konfrontiert sein werden, dürfte auch die Staatspropaganda viel von ihrem Einfluss verlieren. Die Elite dürfte die jüngsten militärischen Rückschläge auch als weiteres Zeichen für Putins Schwäche betrachten. Ein russischer Milliardär hat mir gesagt, dass interne Kämpfe um die Macht ausbrechen dürften, sollte Putin den Donbass verlieren. Das wird all jenen, die von Putins Entscheidung für den Krieg schockiert waren und die wegen der Sanktionen des Westens ihre mitunter über 30 Jahre aufgebauten Geschäfte verloren haben, die Möglichkeit geben zurückzuschlagen. Putins Rolle als Präsident hat auch viel mit seinem Versprechen der Stabilität zu tun. Auch das ist durch seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, erschüttert worden.

STANDARD: Wovon hängt dies nun ab?

Belton: Entscheidend wird die Einheit des Westens sein, was die Sanktionen und die Unterstützung für die Ukraine betrifft, vor allem in einem schwierigen Winter mit steigenden Energiepreisen. Putins Herrschaft ist jetzt in unsicheren Gewässern, weil auch das Staatsbudget wegen der Sanktionen des Westens unter starkem Druck steht. Ein (im Westen vielerorts angedachter, Anm.) Preisdeckel auf russische Ölexporte würde Putins Position weiter schwächen.

Putin muss langsam um sein Amt bangen, schätzt Catherine Belton.
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STANDARD: Ist Putin krank?

Belton: CIA-Direktor William Burns meinte Ende Juli, Putin sei "insgesamt zu gesund". Tatsächlich sind die Hinweise auf eine Krankheit im Sommer verschwunden. Bis dahin hat es bei seinen Auftritten in den ersten Monaten des Jahres stark so gewirkt, als würde er sich in Schmerzen winden und sich, etwa bei einem Treffen mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu, an seinen Tisch klammern. Putin wurde auch immer paranoider, was eine Ansteckung mit Covid betrifft, die Maßnahmen, die er dagegen ergriff, waren extrem. Allerdings wirkt er entspannter, seit er die Taktik seiner Armee verändert hat, sich auf die Ostukraine konzentriert und einen Energiekrieg gegen den Westen gestartet hat. Ein Insider hat mir gesagt, dass davon ausgegangen wird, Putin habe sich im Mai einer Operation unterzogen. Das lässt sich aber nicht überprüfen.

STANDARD: Putin wird schon seit langem eine gewisse Obsession für die russische Geschichte nachgesagt. Ist er ein großrussischer Nationalist?

Belton: Er ist ein Imperialist und war das schon immer. Er glaubt an die Macht des russischen Reiches. Er gehört zu jenem Flügel des Auslandsgeheimdienstes im KGB, der daran glaubt, dass der Kommunismus das russische Reich unterminiert habe – weil er eine Ideologie war, die Russland daran hinderte, mit dem Westen in Wettbewerb zu treten. Das hat er schon in seinem ersten Interview 1992 gesagt, kurz nachdem er zum Vizebürgermeister von Sankt Petersburg ernannt wurde: Die Bolschewiken seien für die Tragödie des Zerfalls der Sowjetunion verantwortlich, weil sie das Land in Republiken unterteilt hätten, die es davor gar nicht gegeben habe. Er sagte auch, dass die Kommunisten zerstört hätten, was Menschen aus zivilisierten Nationen eigentlich verbinde – Handelsbeziehungen. Putin hat immer daran geglaubt, dass die Ukraine eigentlich nicht existieren sollte und nur deshalb als Republik gegründet wurde, weil die Bolschewiken mit den ukrainischen Nationalisten einen Deal eingegangen seien, um ihre Macht zu zementieren. Seine ganze Präsidentschaft über hat er danach getrachtet, Russlands imperiale Position wiederherzustellen.

STANDARD: Zu Beginn des Kriegs war oft davon die Rede, dass sogar hochrangige Militärs es nicht wagten, Putin die wahre Situation in der Ukraine zu verdeutlichen. Glauben Sie das auch?

Belton: Ich denke, dass Putin die Situation ziemlich schnell bewusst wurde – weil seine Armee nicht in der Lage war, Kiew innerhalb weniger Tage einzunehmen, wie es anfangs geplant war. Das vor ihm zu verheimlichen war unmöglich. Putins Sicherheitsdienst, der FSB, hatte ihm vorher nur gesagt, was er hören wollte – und gleichzeitig hat er wohl zu viel Vertrauen in seinen engen Kiewer Verbündeten Wiktor Medwedschuk gesetzt, den Ko-Vorsitzenden einer prorussischen Partei, die von einer schnellen politischen Machtübernahme sprach. Die Armee selbst war nie ordentlich auf einen richtigen Krieg vorbereitet. Tatsächlich ist das einer der Gründe, warum man den Krieg anfangs "militärische Spezialoperation" nannte. Es ging darum, Selenskyj so viel Angst einzujagen, dass er flieht.

Die Teilmobilisierung bringt den Krieg für viele Russinnen und Russen in die eigenen Familien.
Foto: Olga MALTSEVA / AFP

STANDARD: Auf wen hört Putin jetzt?

Belton: Vor allem auf seine engsten und radikalsten Berater aus dem KGB. Das sind Sicherheitsleute, mit denen er in Sankt Petersburg eng zusammengearbeitet hat, zum Beispiel Nikolai Patruschew. Er sagt Putin, was zu tun ist: nämlich, dass er Russlands Souveränität schützen müsse und dass die USA die Ukraine als Plattform benutzten, um Russland zu bedrohen. Patruschew war lange eine Art graue Eminenz hinter den Kulissen, die Putin auf einige der dunkelsten Wege seiner Präsidentschaft schickte. Er ist ein Jahr älter als Putin und zog zwei Jahre vor diesem nach Moskau. Der Sankt Petersburger KGB galt als weit skrupelloser als jener in Moskau, weil man dort unter einer Art Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Hauptstadt litt.

STANDARD: Nach Kriegsbeginn richteten sich viele Hoffnungen im Westen auf die Kaste der Oligarchen, die ja von den Sanktionen teilweise hart getroffen werden. Warum haben sie sich nicht erfüllt?

Belton: Wer glaubt, die Oligarchen könnten einfach zu Putin gehen und verlangen, er solle den Krieg beenden, versteht Putins Russland nicht. Die Sanktionen hatten dies aber auch gar nicht zum Zweck. Es ging darum, diese sogenannten Oligarchen davon abzuhalten, ihre Soft Power und ihren Einfluss im Westen dazu zu nutzen, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu unterminieren. Unter Putin sind Oligarchen keine Oligarchen, sie sind Geiseln des Kreml. Man kann ihnen ganz einfach mit Gefängnis drohen oder mit dem Verlust ihres Geschäfts, wenn sie die Befehle des Kreml nicht befolgen. Manche haben ja sehr offen darüber gesprochen. Der Pakt mit dem Kreml, nämlich Befehle zu befolgen und dafür Wohlstand genießen zu können, ist seit dem Krieg aber gebrochen worden, weil die Sanktionen die Unternehmen und den Ruf der Oligarchen beschädigt oder zerstört haben.

Nukleare Drohungen, Teilmobilisierung: Bröckelt Putins Macht, oder ist er gefährlicher denn je? Rund um diese Frage diskutierte eine Expertenrunde beim Videotalk "STANDARD mitreden". Unter anderem dabei: Susanne Scholl, Gerhard Mangott und Gerald Karner
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STANDARD: Warum sind die alten KGB-Kader rund um Putin so mächtig?

Belton: Weil diese Leute die Macht monopolisiert haben. Vor allem, indem sie das Gerichtssystem untergruben und allen mit Gefängnis drohen können, die ihre Dominanz infrage stellen.

STANDARD: Wer könnte Putin gefährlich werden?

Belton: Die größte Bedrohung für Putin kommt von seinen eigenen Sicherheitsdiensten. Dort gibt es jüngere, fortschrittlicher denkende Mitglieder, denen ähnlich wie ihren Vorgängern in den spätsowjetischen 1980er-Jahren auffällt, dass Putins Kurs in einen internationalen Paria-Status führt und das Land schwer beschädigt. Für diese Leute kann Russland mit dem Westen nur mithalten, wenn es in den Westen integriert ist.

STANDARD: Was kommt dann?

Belton: Das System, das nach der Herrschaft Putins kommt, wird wahrscheinlich weiter von den Sicherheitsdiensten dominiert sein. Vermutlich wird es aber ein weicheres Gesicht zeigen, weil Russland nach dem Krieg an einer Wiederherstellung seiner Position gelegen sein wird. (Florian Niederndorfer, 25.9.2022)

Maxim Katz analysiert für Millionen Russinnen und Russen den Krieg. Er ist überzeugt, dass viele Landsleute Putin und sein Regime ablehnen und dass Putin ins Wackeln kommen wird
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