"Mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich selbst zu helfen wissen, sind die wichtigste Waffe gegen Tyrannen und Populisten, die mit der Angst anderer Leute ihr Geld verdienen", sagt der Publizist Wolf Lotter im Gastkommentar.

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Es war im März 2022, nur wenige Tage nachdem Wladimir Putin seine Truppen auf die Ukraine losgelassen hatte. In einer Ecke einer Veranstaltung mit vielleicht zwei-, dreihundert deutschen Führungskräften fand sich eine Pinnwand. Darauf stand: "Welcher dieser Begriffe wird in den nächsten Jahren Ihren Arbeitsalltag und den Ihrer Mitmenschen am meisten prägen?" Dort sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Fähnchen anstecken. Um etwa den Begriff "Klimawandel" wieder lesen zu können, musste man schon ein paar Fähnchen entfernen – so viele steckten da drin. Und dann natürlich noch "Agilität". Und "Purpose". Und "Wokeness". Einsam und verlassen, abseits der absoluten Hit-Begriffe erwachsener, bessergebildeter Westeuropäer, fanden sich, nur von zwei traurigen Fähnchen ausgewählt und ganz abgeschlagen, die Worte "Sicherheit" und, eins weiter, "Angst". Darauf hatte überhaupt keiner aus dem visionären Management Lust. An der Pinnwand stand eine ältere Professorin, die sich auf ihren Vortrag vorbereitete. "Na, das werden wir ja sehen", sagte sie lachend. Dann ging sie und redete über Komplexität. Die Führungskräfte nickten.

Buuh!

Das Ergebnis der Umfrage war vor einem halben Jahr nicht überraschend. Heute wirkt es wie aus der Zeit gefallen. Sechs Monate sich zuspitzender Rohstoffkrise, kein Gas, die Aussicht auf einen kalten Winter und einen langen Krieg, dazu weitere Corona-Wellen, Inflation und die damit verbundenen Alltagsprobleme nicht nur bei Klein- und Durchschnittsverdienern, der Zinsanstieg und die damit verbundene berechtigte Sorge, seine Konsum- und Hauskredite nicht mehr zahlen zu können – all das macht uns langsam mürbe. Dazu kommt, dass die, die es sich leisten können, Leute mit einer guten materiellen Versorgung, die nachmittags in irgendwelchen Konferenzzentren ein paar Fähnchen in Pinnwände stecken können, offensichtlich ganz andere Sorgen haben. Wer auf Twitter nachschaut, merkt, wie genervt von manchen materiellen Existenzsorgen vor allem die Bessergestellten und Bessergebildeten sind.

"Die öffentlichen Intellektuellen von heute sind einen Schritt weiter. Sie geißeln nicht sich selbst, sondern die anderen."

Der Fernsehphilosoph Richard David Precht ist nicht der Einzige, der den Menschen angesichts ihrer Ängste und Verunsicherung empfiehlt, doch mal auf ein wenig Wachstum zu verzichten – ganz so, als ob das jetzt das größte aller Probleme wäre. Sein Wunsch wird sich angesichts der Krisenvielfalt ohnehin ganz von allein erfüllen. Beklatscht wird er dafür von unkündbaren Beamten, gern mit Lehrstuhl, die nun moralisches Oberwasser bekommen – und die sich ihren Postmaterialismus leisten können. Es gibt sie ja schließlich noch, die guten Dinge. Die Flagellanten des Mittelalters, die sich öffentlich und privat selbst geißelten, nannten ihre Selbstverstümmelung "disciplina", "Erziehung". Die öffentlichen Intellektuellen von heute sind einen Schritt weiter. Sie geißeln nicht sich selbst, sondern die anderen. Dafür haben sie ihr Motiv ausgebaut: Moral ersetzt das Materielle.

Helden der Arbeit

Ein Paradox: Im öffentlichen Raum sind die Verzichtsprediger meist die, die auf nichts verzichten müssen, weil sie ohnehin alles haben – wenn nicht griffbereit, so doch in Form eines Erbes oder eines privilegierten Jobs. Das erinnert an jene Werkstudenten aus besserem Hause, die sich in meiner Jugend gerne dort als Ferialpraktikanten beworben haben, wo es besonders wehtut – in heißen Stahlwerken, stinkenden Chemiefabriken oder beim Möbelschleppen in der Spedition. Dafür feierten sie sich wie Helden der Arbeit.

Tatsächlich wussten sie, dass sie nach vier, fünf Wochen wieder in ihr Nest zurückdurften. Die Perspektive hieß ein Studium, ein guter Job, ein gutes Gehalt, höchstwahrscheinlich Beamtenstatus. Irgendwann würden sie die Häuser und Bausparverträge ihrer Alten erben und sich vielleicht ein Wochenendhaus in der Provence kaufen. Die Arbeiterkinder, die sich in den Ferien Geld fürs Studium verdienen mussten, wählten mit weniger Attitude und mehr Bedacht eine Arbeit, die nicht ganz kaputt machen würde, denn das Semester musste schließlich auch noch geteilt werden zwischen Uni und einem Job, der das Studium ermöglichte.

"Das Wort Angst stammt vom lateinischen Angus, das bedeutet genau das: Enge, ein Druck auf der Brust, dauernd."

Und damals wie heute gab es die, die weder die eine noch die andere Perspektive hatten – stattdessen nur einen überhaupt nicht gut bezahlten Job, mit Glück einen, der einen nicht auch noch körperlich mit 45, 50 ausspuckte zur Frührente. Geerbt wurde nichts, gespart werden konnte wenig, und natürlich waren es die Jobs, die am leichtesten automatisiert werden konnten durch Maschinen, Roboter und Algorithmen. Alles war und blieb knapp, eng. Das Wort Angst stammt vom lateinischen Angus, das bedeutet genau das: Enge, ein Druck auf der Brust, dauernd.

Nun geht die Angst in ihr nächstes Stadium über, in die Furcht. Angst ist ein allgemeines Gefühl, es liegt dem ganzen Leben zugrunde, ist immer da. Die Furcht ist sozusagen die konkret gewordene Lebenssorge, eine Angst, die einen Namen hat, vor Arbeitslosigkeit, davor, Rechnungen und Kredite nicht mehr zahlen zu können, aus der Wohnung geschmissen zu werden und, nicht weniger schlimm, von denen verachtet und moralisch belehrt zu werden, die schon alles haben und finden, dass die anderen auch nix mehr brauchten, und die ihre Fähnchen dorthin stecken, wo es wohlfeil ist, dem Zeitgeist der eigenen abgesicherten Klasse entspricht.

Über Sicherheit reden

Natürlich müssen wir über Sicherheit reden, und auch über Angst und darüber, wie sie beseitigt wird. Aber es bedarf zunächst eben der Feststellung, dass wahrscheinliche Risiken und Unsicherheiten höchst ungerecht verteilt sind. Und dass meist die darüber öffentlich und politisch reden, deren Gerechtigkeit vor allem die Selbstgerechtigkeit ist.

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Hilfe zur Selbsthilfe
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Stecken wir die Fähnchen doch mal um und sagen, was wirklich ist: Diese Gesellschaft ist nicht einmal notdürftig auf die Zeiten der neuen Unsicherheit und ihrer Bewältigung vorbereitet. Unser Sozialsystem kennt keine Grundsicherung, die nicht gleichsam auch eine Erziehungsmaßnahme zur Arbeit ist, ganz unabhängig davon, ob es diese Arbeit gibt oder nicht. Die Leute, die zur Sicherheit reden, hängen entweder der alten industriellen Ordnung an, die es schon lange nicht mehr gibt und die trotzdem von der Politik und den Verbänden am Leben erhalten wird, weil sie selbst ohne diese Ordnung auch nichts wären. Eine Zivilgesellschaft, die sich zu helfen versteht, die Hilfe zur Selbsthilfe – immerhin in der EU-Verfassung als Subsidiaritätsprinzip verankert – kann, diese Zivilgesellschaft wird durch Bürokraten und Besserwisser erstickt. Krieg und Krankheit sind schlimm genug, aber dann auch noch diese Enge, dieser Starrsinn, diese, anders ist es nicht zu sagen, menschliche Niedertracht im Umgang mit denen, die nicht so privilegiert sind.

Die allerlängste Zeit

Sollen sie doch Kuchen essen. Man hofft insgeheim, nein, mittlerweile offen, dass die Sache für die Zyniker ähnlich ausgehen möge wie die ihrer historischen Vorbilder im Frankreich des Ancien Régime. Sicherheit ist, das hat der große Psychologe Abraham Maslow gelehrt, ein elementares menschliches Bedürfnis. Es folgt dem Existenzbedürfnis, dem nackten täglichen Überleben also, und es vermischt sich immer wieder mit dieser ersten Stufe menschlichen Daseins. Die allerlängste Zeit in der Menschheitsgeschichte waren die meisten unserer Vorfahren fast täglich im Überlebenskampf, das "Reich der Notwendigkeiten" hat Karl Marx das später genannt, dem, so hoffte er, das "Reich der Freiheit" folgen würde (was, das nur nebenbei, ganz schön liberal gedacht ist für einen, dessen Epigonen unermüdlich Diktaturen errichten oder errichten wollen).

Der größte Feind der Unsicherheit ist das Selbstbewusstsein, und das kommt nicht von allein in die Welt. Es ist das Kind von selbstständigem Denken und Arbeiten, also der real existierenden persönlichen Reduktion von Unsicherheit, die alle Wissenschaft so beschäftigt. Machen statt Sorgen machen. Das "Reich der Freiheit" ist in Wahrheit das Reich der Freiräume. Was man dazu braucht, sind die Zutaten, mit denen auch Innovationen, Problemlösungen, Transformationen zum Besseren gelingen. Ermutigung zum Selbstständigsein, zum Selbermachen, zur Selbsthilfe. Und klare Regeln statt eines allgegenwärtigen Wildwuchses einer selbstgerechten Bürokratie. Zum Beispiel die einer materiellen Grundsicherung, eines Grundeinkommens, das längst nicht mehr jenes links-alternativ-spinnerte Projekt ist, als das es so oft denunziert wird.

Angstnehmer Grundeinkommen

Der an der Universität Hamburg lehrende Ökonom Thomas Straubhaar gehört zur wachsenden Zahl bürgerlich-liberaler Vertreter des bedingungslosen Grundeinkommens. Schon vor fast zwanzig Jahren benannte er im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Brand eins seine Motive: Die Verunsicherung im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft sei so groß, weil "die Ordnung, das Gewohnte" verloren gehe. Umso wichtiger sei es, an die Stelle der alten Ordnung eine neue zu setzen, und zwar gleich eine, bei der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eine tragende Rolle spielen. Das Grundeinkommen würde die Angst vorm Totalverlust nehmen und damit Ruhe und Ordnung in die sozialen Verhältnisse bringen, die sich allmählich neu formieren könnten. So würde aus dem Risiko tatsächlich eine Chance.

Der ehemalige Chef der Heinrich-Böll-Stiftung und Grünen-Politiker Ralf Fücks propagiert eine ähnliche Idee, die des Bildungsgrundeinkommens: Mit 1200 Euro monatlich auf die Dauer von drei Jahren sollen Weiterbildung und Umschulung gefördert werden. Viele Blue-Collar-Arbeiter schrecken vor Weiterbildungsmaßnahmen zurück – einerseits, weil sie die Schule als strafende Abschreckungsanstalt und nicht als Partner zur eigenen Entwicklung kennengelernt haben und, noch wichtiger, weil sie sich auch den Teilausstieg aus der Vollzeit einfach nicht leisten können.

Keine Wundermittel

Solche Maßnahmen sind keine Wundermittel, aber durchaus wirksam werdende Instrumente für die Transformation. Die Mittel wirken sogar, wenn man sie gar nicht einnimmt. Wer weiß, dass er nicht muss, aber kann, wird selbstsicherer, es wird etwas gewagt. Krisen verstärken sich ja immer dadurch, dass die Entscheidungen zu Veränderungen hinausgezögert werden. Alle glauben, dass das Rüberretten noch möglich sei, aber Rüberretten bedeutet natürlich, dass man aktiv und selbst Rettungsmaßnahmen einleitet. Die Beseitigung von Angst ist Arbeit.

"Wieder Allgemeinbildung, humanistisches Denken lehren statt dieser unsäglichen Auswendiglernerei, bei der am Ende zitternde Duracell-Häschen rauskommen, die ihr Leben lang Angst haben, dass ihnen die Batterie ausgeht."

Keine Sorge, selbst wenn sie nur eingeredet sein sollte, geht von selbst vorbei. Ja, und wenn es auch langweilig ist, weil oft gesagt: Bildung, Bildung, Bildung. Aber nicht jene stumpfsinnige Auswendiglernerei, mit der wir unsere Zeit und die unserer Kinder verplempern, sondern Bildung, die lernen zu lernen bedeutet, Hilfe zur Selbsthilfe also. Sie müssen wieder Allgemeinbildung, humanistisches Denken lehren statt dieser unsäglichen Auswendiglernerei, bei der am Ende zitternde Duracell-Häschen rauskommen, die ihr Leben lang Angst haben, dass ihnen die Batterie ausgeht. Mündige Bürgerinnen und Bürger, die sich selbst zu helfen wissen, sind die wichtigste Waffe gegen Tyrannen und Populisten, die mit der Angst anderer Leute ihr Geld verdienen – und sie deshalb bei jeder Gelegenheit verstärken. Wladimir Putin, Donald Trump und das ganze Gesocks, bei dem es aber nicht genügt, einfach nur dagegen zu sein, sondern bei dem wir auch wissen müssen, was wir zu verlieren haben, wenn wir uns ihm nicht entgegenstellen.

Wladimir Putin, Donald Trump 2019.
Foto: AP / Susan Walsh

Verunsicherung, Angst, das ist auch das Ergebnis von geistiger Trägheit, die im Alltag gefördert wird. Auch hier sind Selbstbestimmung und Selbstständigkeit in der Arbeit und im Leben, echte Emanzipation also, die schärfste Waffe. Ihre Schneide ist der Kontext, die verstandenen Zusammenhänge. Wer nicht weiß, wie Wirtschaft, Verwaltung, Digitalisierung, Organisationen und neue Technologien grundlegend funktionieren, der lebt in Enge, mit ständigem Ohnmachtsgefühl. Der braucht die Kümmerer, die ihrerseits Verkümmerte, Ängstliche, Besorgte, Hilflose brauchen.

Diese gewerbsmäßigen Kümmerer und Retter sind es, auf die wir in diesen Zeiten am meisten achten müssen. Die, die behaupten, dass wir unsere Verunsicherung, unsere Ängste nur in den Griff kriegen, wenn wir tun, was sie uns sagen, wenn wir ihnen folgen, ohne Fragen stellen zu können, weil es an der nötigen Grundbildung mangelt.

"Nichts lieben Tyrannen mehr als den Satz 'Ich allein kann ja doch nichts machen'."

Machen wir uns nichts vor: Wir sollten nicht über Verzicht, Demut, Buße und anderen Unfug aus dem Mittelalter reden, sondern über den Einstieg in die Moderne, in die Aufklärung, in das Zeitalter des Lichts, wie man es auch nannte. Angst und Verunsicherung sind dort am stärksten, wo Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein am schwächsten sind. Nichts lieben Tyrannen mehr als den Satz "Ich allein kann ja doch nichts machen". Es ist gleichgültig, ob es um eine dringende Reform des alten Sozialstaats in eine neue, gerechtere und krisen- und überraschungsfestere Gesellschaft geht, um die eigene Arbeit, den Umgang mit Diktaturen oder Populisten – und vor allen Dingen das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Nichts verändert sich von selbst. Aber durch euch selber. Ab ins Reich der Freiräume. Zu Tode gefürchtet, wusste Johann Nestroy nämlich, ist auch gestorben. Buh! (Wolf Lotter, 27.9.2022)