Museumsdirektor Hanno Loewy mischt sich immer wieder in aktuelle Debatten ein.

Foto: Christian Grass

Bereits Monate vor Beginn begannen die Diskussionen: Als einige Tage nach der Eröffnung der Documenta ein als antisemitisch eingestuftes Bild abmontiert wurde, war das Debakel komplett. Die Debatte ebbte auch in den vergangenen 100 Tagen nicht ab.

STANDARD: Die Documenta wurde von einer Antisemitismusdebatte überschattet. Wie haben Sie diese wahrgenommen?

Loewy: Die Debatte war von zwei Dingen geprägt. Zum einen von der Weigerung eines großen Teils der Medienöffentlichkeit, zur Kenntnis zu nehmen, dass hier zwei vollkommen unterschiedliche legitime Perspektiven auf den Nahen Osten aufeinandertreffen. Der zweite Aspekt besteht darin, wie die Projektionen auf diesen Konflikt in europäischen Auseinandersetzungen benutzt werden, in denen es um Migration und das Verhältnis zu Muslimen geht oder um die Frage, ob wir eigentlich in einer liberalen oder einer illiberalen Demokratie leben wollen.

STANDARD: In der Antisemitismusfrage traf die europäische Perspektive auf jene des, pauschal formuliert, "Globalen Südens". Warum war hier kaum Verständigung möglich?

Loewy: Die deutschen Organisatoren der Documenta haben den Dingen mit einer großen Naivität ihren Lauf gelassen. Man hat schon Monate vor Beginn der Documenta erahnen können, dass es zu größeren Debatten kommen könnte: Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist der Ort, wo die inneren Widersprüche der ehemaligen Kolonialmächte, aber auch die Machtfragen innerhalb der Gesellschaften der ehemaligen Kolonien symbolisch ausgetragen werden.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Loewy: Aus palästinensischer Sicht ist Israel Teil des europäischen Kolonialismus. Das ist eine durchaus legitime Perspektive und hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Aus einer jüdischen Perspektive stellt sich das natürlich anders dar, die Hoffnung auf Souveränität ist eine Konsequenz aus den erlebten Vernichtungserfahrungen.

STANDARD: Die Debatte krankte an der Gleichsetzung von Israel-Kritik mit Antisemitismus?

Loewy: Natürlich. Aber auch diese Gleichsetzung hat Gründe. Palästinenser nehmen den Konflikt um Israel aus einer Bürgerkriegsperspektive wahr. Aus dieser gibt es keine Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten. In einem Nationalitätenkonflikt um ein Territorium, das man nur gemeinsam bewohnen kann, ist man schnell dabei, den Gegner zu dämonisieren. Das passiert auch auf israelischer Seite, man bedient sich in der Charakterisierung des Gegners rassistischer Stereotype und delegitimiert seine Interessen als "antisemitisch". Benutzen Palästinenser antisemitische Motive, tun sie das nicht, weil sie geborene Antisemiten sind, sondern weil der Nationalitätenkonflikt dazu verführt, die andere Seite mit traditionellen Stereotypen zu verteufeln. Aber das ist natürlich eine gefährliche Dynamik.

STANDARD: Das Problem bestand darin, dass keine israelischen Künstler gezeigt wurden, palästinensische aber sehr wohl.

Loewy: Na ja, es waren jüdische Künstler beteiligt, auch israelische Künstler, darunter auch eine jüdische, aber diese wollte sich nicht als Feigenblatt instrumentalisieren lassen. Künstler aus dem "globalen Süden" haben natürlich eher Sympathien für die Sache der Palästinenser als für die israelische Besatzungsmacht. Aber nicht nur für sie ist das offenbar ein symbolisch wichtiger Konflikt. Interessanter ist in dieser Hinsicht jedoch, dass es bereits Monate vor der Documenta eine bis ins Rassistische abgleitende Kampagne deutscher Medien gegen die Kunstschau gab.

STANDARD: Was steckte dahinter?

Loewy: Ich glaube, die Kampagne speiste sich aus unterschiedlichen Motiven. Eines davon besteht darin, dass die Springer-Presse seit vielen Jahren versucht, Antisemitismus als ein linkes Problem darzustellen. Und dies gegen alle Fakten: Das Gros antisemitischer Gewalt kommt immer noch von rechts. Das zweite Motiv besteht darin, dass man das tiefsitzende Misstrauen in Europa gegen Migranten zu einem hehren Abwehrkampf gegen Antisemitismus erklären kann. Der eigene Antisemitismus wird dadurch heruntergespielt. Und mit der eigenen kolonialen und postkolonialen Geschichte, zum Beispiel der westlichen Beteiligung am Genozid in Indonesien, der das eigentliche Thema von Taring Padi ist, damit will man sich schon gar nicht beschäftigen. (Stephan Hilpold, 25.9.2022)