Kolja aus Moskau, 41 Jahre alt, ist Offizier der Reserve. Ihn könnte die vom Kreml verfügte Teilmobilmachung durchaus treffen. "Panik, Verzweiflung, Angst vor einem dritten Weltkrieg, vor dem Einsatz von Atomwaffen", so erzählt er dem STANDARD von seinen Gefühlen und ersten Gedanken nach der Bekanntgabe von Wladimir Putins Entscheidung. "Ich habe weder Kampferfahrung noch eine passende militärische Ausbildung – und schon gar kein Verlangen, in Putins Krieg zu kämpfen. Selbst die, die immer große Töne gespuckt haben, werden jetzt zittern."

So wie Kolja empfinden viele der 25 Millionen Reservisten in Russland. 300.000 oder mehr – die Rede ist teils auch von bis zu einer Million – sollen jetzt eingezogen werden. Wen es trifft? Niemand weiß es. Auf den Straßen von Moskau gibt es viel Zurückhaltung, nur wenige Passanten wollen die Entscheidung des russischen Präsidenten kommentieren. Doch im Internet äußern sich viele, die von der Einberufung betroffen sein könnten. So hat u. a. das Onlinemedium Meduza Stimmen dazu gesammelt.

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Der 28-jährige Leonid aus Moskau etwa schreibt: "Putins Entscheidung hat meine Zukunft in Russland zerstört. Ich mache Urlaub in der Türkei. Ab morgen entscheide ich, wo und wie ich mich bewegen kann, um ein neues Leben zu beginnen. Wie man ein Auto verkauft. Wie man eine Katze außer Landes bringt. Wie man einem Bruder hilft, der jetzt in Moskau ist."

Michail, er ist 36, stammt aus Nowosibirsk. "Ich habe Russland im Frühjahr verlassen. Ich weiß nicht genau, wie die Mobilisierung in meiner Heimatstadt verläuft, aber ich werde definitiv nicht nach Russland zurückkehren."

Viele Reservisten überlegen, wie sie der Einberufung entgehen können. Der Moskauer Ilja, 35 Jahre alt, schreibt: "Ich habe mit meinen Eltern vereinbart, dass ich, wenn ich eine Vorladung bekomme, für mindestens sechs Monate in ein abgelegenes Haus auf dem Land ziehe und sie Essen liefern." Roman ergänzt: "Ich habe mich bereits bei allen möglichen Ärzten in der Klinik angemeldet, um alle meine chronischen Krankheiten offiziell registrieren zu lassen. Ich hoffe, in diesem Fall die Kategorie D zu bekommen." Sprich: doch nicht eingezogen zu werden.

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Russland verlassen?

Die meisten Reservisten, deren Aussagen Meduza dokumentiert hat, denken wie der 31-jährige Iwan aus der Region Primorsky: "Ich habe die Hoffnung, dass sie mich nicht erreichen werden." Und viele denken daran, Russland zu verlassen.

"Sie können weiter ruhig auf Dienstreise nach Krasnodar oder Omsk fahren, aber ich würde Ihnen nicht raten, in türkische Kurorte zu fahren. Erholen Sie sich lieber in den Badeorten der Krim und des Gebiets Krasnodar", sagte Andrej Kartapolow, der Leiter des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, am Mittwoch, kurz nach der Rede von Präsident Putin. Zu diesem Zeitpunkt waren viele Flüge in Länder, in die Russen visafrei reisen können, bereits ausgebucht.

Im Netz kursieren Spekulationen darüber, wie die Mobilisierung praktisch durchgeführt werden wird. Tatsache ist, dass die Einberufung derzeit wohl nur gültig ist, wenn der entsprechende Bescheid dem Reservisten persönlich übergeben wird. Laut Meduza gilt "die Vorladung erst dann als zugestellt, wenn Sie dem Mitarbeiter des Militärmelde- und Einberufungsamtes die Tür geöffnet und das Dokument unterschrieben haben. Die weitverbreitete Praxis, Vorladungen in Briefkästen zu werfen, verpflichtet Sie nicht – solche Dokumente können ignoriert werden."

Doch warum nun dieser Schritt? Warum die Teilmobilmachung der Reservisten? Ein Grund ist wohl der Personalmangel in den russischen Einheiten, die in der Ukraine kämpfen. Bisher werden nur Vertragssoldaten eingesetzt – Freiwillige, zumeist aus den ärmeren Regionen Russlands, die gegen Bezahlung zum Militär gehen. Doch Freiwillige gibt es immer weniger – trotz Plakatkampagnen in vielen russischen Städten.

Von einer wohl nicht sehr erfolgreichen "verdeckten Mobilisierung" spricht die Onlinezeitung Nowaja Gaseta. Selbst in Gefängnissen werde rekrutiert: Militärdienst gegen Straferlass. Nun aber die reguläre Mobilmachung von Reservisten.

Für einen Sturm verzweifelter Empörung sorgte zu Wochenmitte der russische Präsident Wladimir Putin, als er eine Teilmobilmachung verkündete, um die "militärische Spezialoperation" in der Ukraine zu verstärken. Trotz drohender rigoroser Haftstrafen gingen Menschen in Moskau und Sankt Petersburg auf die Straße. Die Polizei ging brutal gegen sie vor.
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In seiner Rede vom Mittwoch betonte Russlands Präsident Putin: "Die Parlamente der Volksrepubliken des Donbass und die zivil-militärischen Verwaltungen der Regionen Cherson und Saporischschja haben beschlossen, Referenden über die Zukunft dieser Gebiete abzuhalten. Und sie haben sich an uns, an Russland, gewendet mit der Bitte, einen solchen Schritt zu unterstützen." Wären die vom Westen als "Scheinreferenden" bezeichneten Abstimmungen erfolgreich – und davon ist auszugehen –, so könnten in der Ukraine Reservisten eingesetzt werden, quasi zur "Landesverteidigung".

Hat sich Putin Luft verschafft?

Nach den jüngsten militärischen Misserfolgen – und aller Kritik daran – hat sich Putin mit der Einberufung von Reservisten vorerst also wieder Luft verschafft und sich die Unterstützung der Nationalisten im Land gesichert.

Die Entscheidungen seien "fast alle so, wie ich es mir gewünscht habe", lobt der im Donbass agierende Feldkommandant Alexander Chodakowski. In Russland hingegen gingen in 38 Städten viele Menschen gegen die Mobilisierung auf die Straße. Über 1300 Demonstranten wurden verhaftet, berichtet die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info – davon mehr als 500 in Moskau und gleich viele in Sankt Petersburg. Bis zu 15 Jahre Haft droht den Demonstrantinnen und Demonstranten.

Die Mobilisierung schürt Ängste, Putin könne auch noch das Kriegsrecht verhängen – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg. Davon ist Russland noch weit entfernt. Aber in Erinnerung vieler ist der Satz Putins vom Juli zur "Spezialoperation" in der Ukraine: "Wir haben noch nicht ernsthaft begonnen."

Putin hatte zu Wochenbeginn auch die Rüstungsindustrie angewiesen, die Waffenproduktion hochzufahren. Selbst Rentner werden für den Mehrschichtbetrieb mobilisiert. Aber viele Menschen in Russland glauben nicht mehr an den großen Sieg. Und der russische Politologe Abbas Galljamow meint sogar, dass Putin nicht einmal versuche, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erringen – und selbst nicht an einen Sieg glaube. "Er braucht die Mobilisierung, um die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen", sagt Galljamow. Dafür zeige Putin die Bereitschaft zur Eskalation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.

Kolja aus Moskau jedenfalls sagt, er hoffe, durchs Raster zu fallen. "Ich bin 1.000 Kilometer von Moskau entfernt gemeldet, ein Einberufungsbescheid muss persönlich gegen Unterschrift übergeben werden. Per Post geht es nicht. Zumindest laut Gesetz. Aber was gilt das schon bei uns."

Verstecken wäre auch für ihn eine Option oder die Flucht ins Ausland. "Aber ich kann nicht sicher sein, dass sie mich ausreisen lassen." Er hat auf jeden Fall seiner Familie gesagt, niemandem zu erzählen, wo er wirklich lebt. "Das Risiko ist jetzt groß. Am schlimmsten ist die Unsicherheit, zu warten, ob man einberufen wird." (Jo Angerer, 23.9.2022)