Anita Hofmann hat Angst. Sie fürchtet sich vor der geplanten Großbaustelle in ihrem Ort. Bilder der Katastrophe von Longarone verfolgen sie: Im Jahr 1963 ließ ein Bergrutsch im nördlichen Italien einen Stausee überschwappen. Die Flutwelle zerstörte Ortschaften und tötete rund 2000 Menschen. Die 57-jährige Kindergartenpädagogin lebt unterhalb des Gepatschspeichers im Tiroler Kaunertal. Seit fast 60 Jahren produziert hier die landeseigene Tiwag Strom. Jetzt will sie das Kraftwerk ausbauen, und Hofmann befürchtet weitere Hangrutsche. "Wir sitzen mit unseren Familien vor dem Speicher. Die von der Tiwag, die haben ihre Familien im Trockenen", sagt sie mit leicht zitternder Stimme.

Das idyllische Platzertal westlich des Tiroler Kaunertals soll für die Energiewende aufgestaut werden.
Foto: WWF / Sebastian Fröhlich

Tirol steht kurz vor einer Landtagswahl, bei der sich vieles ändern könnte. Im Wahlkampf sind sich alle Parteien einig: Tirol muss beim Ausbau der erneuerbaren Energie einen Zahn zulegen. Welche Rolle ein Megaprojekt wie der Ausbau im Kaunertal dabei spielen soll und ob die Tiwag das richtige Zugpferd für die grüne Transformation ist, führt allerdings zu hitzigen Debatten. Die schwarz-grüne Koalition ist seit neun Jahren in der Frage entzweit: Wie viel Natur darf für Energie- und Tourismusprojekte geopfert werden? Aber auch innerhalb der ÖVP bröckelt die einst betonharte Tiwag-Front, was im Wahlkampf kaum zur Sprache kommt.

Das ist auch der Grund, warum der Alpenverein und der WWF Menschen wie Hofmann kurz vor der Wahl in ein Hochtal neben dem Kaunertal eingeladen haben. Dort, im Platzertal auf über 2000 Metern, ist es still. Hin und wieder pfeift ein Murmeltier. Hinter Hofmann mäandert ein Gletscherbach durch rund sechs Hektar Moore. All das könnte bald Geschichte sein, erklären Fachleute den Journalistinnen und Journalisten bei einer Pressefahrt. Hier soll ein weiterer Staudamm – fast so hoch wie der Stephansdom – entstehen und das Tal geflutet werden. Seit mehr als zehn Jahren läuft das Verfahren, die Behörde erteilte bereits mehrere Verbesserungsaufträge. Anfang des kommenden Jahres könnte das Projekt in die nächste Verfahrensstufe kommen.

Der Weg ins Platzertal ist beschwerlich. So sehr, dass die Tiwag ihre Großbaustelle vom Kaunertal aus betreiben will – der Heimat Hofmanns wie auch von Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Durch einen Tunnel sollen über Jahre schweres Gerät und tausende Lkws durch den Bergkamm fahren, eine Großbaustelle. Später dann soll durch die Tunnel Wasser für den Speichersee fließen. Ein Großteil des Wassers soll bereits im Ötztal eingefasst und durch weitere Tunnel zuerst ins Kauner-, dann ins Platzertal geleitet werden. Erst nach einer rund 50 Kilometer langen unterirdischen Strecke, am höchsten Berg Tirols, der Wildspitze, vorbei, soll das klare Alpengold in den Turbinen der Tiwag zu Strom werden.

Trockene Sommer

Die Menschen im Ötztal aber wollen "ihr Wasser" nicht hergeben. "Wir hatten heuer schon einen katastrophalen Sommer mit so wenig Wasser wie noch nie", sagt Reinhard Scheiber, Obmann zweier Agrargemeinschaften im hinteren Ötztal. Seine Schafe mussten wegen der Trockenheit im Sommer mehrere Kilometer zur nächsten Wasserstelle zurücklegen, seit Juli seien die Quellen ausgelastet gewesen – "so früh wie nie zuvor".

Noch ist es ruhig im Platzertal. Einzelne Murmeltiere pfeifen, doch bald soll dort eine Megabaustelle der Tiwag entstehen.
Foto: WWF / Sebastian Fröhlich

Leitet die Tiwag bis zu 80 Prozent der Gurgler- und Ventnerache ab, "kann sich das nicht mehr ausgehen", befürchtet Scheiber. Jetzt schon zählt das Ötztal zu den niederschlagsärmsten Tälern Tirols.

Noch kommt in den Sommermonaten das meiste Wasser von den schmelzenden Gletschern der Ötztaler Alpen. Egal ob von der Tiwag abgepumpt oder nicht, diese Ressource hat ein Ablaufdatum. Darum kümmert sich der Klimawandel.

"Wer ist so dumm und setzt lebenslang auf die gleiche Aktie?" Reinhard Scheiber, Bauer und Obmann zweier Agrargemeinschaften im Ötztal

Spätestens hier beißt sich die Katze in den eigenen Schwanz: je heftiger der Klimawandel, desto schneller schmelzen jene Gletscher, deren Abflüsse für die Wasserkraft herangezogen werden. Tirol präsentiert sich selbst als die "Batterie Europas": Zu Spitzenzeiten können Pumpspeicher entleert und in Windeseile viel Strom ins europäische Netz gespeist werden. Wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint, ist das für die Netzstabilität essenziell. Dafür brauche man den Kraftwerksausbau, betont die Tiwag bei jeder Gelegenheit und verweist auf ihre Untersuchungen, die keine Beeinträchtigung der Wasserversorgung prognostizieren.

Wenig PV, kein Windrad in Tirol

Bereits im heurigen Juli musste die Wasserkraft zurückstecken: Wegen der Hitze wurde in Österreich fast ein Drittel weniger Strom als im Vorjahr produziert, sagt der Stromnetzbetreiber Austrian Power Grid. In anderen Ländern wie etwa China waren die Produktionsschwankungen noch viel drastischer, es kam zu Rationierungen.

"Wer ist denn so dumm und setzt lebenslang auf die gleiche Aktie?", fragt der Bauer Scheiber. Tatsächlich kommen mehr als 90 Prozent der erneuerbaren Energie in Tirol aus Wasserkraft. In Sachen Photovoltaik hinkt das Land hinterher, und noch immer dreht sich kein einziges Windrad in den Bergen Tirols.

Bauer Reinhard Scheiber fürchtet um das Wasser für seine Schafe.
Foto: Laurin Lorenz

Wer dafür verantwortlich ist, darüber wird gestritten, auch im Wahlkampf. Denn die Tiwag als Landesenergieversorger wird von der seit 77 Jahren regierenden ÖVP als Quasieigentum betrachtet. Davon zeugte jüngst der Auftritt des Seilbahnlobbyisten und VP-Scharfmachers Franz Hörl, als er im Fernsehen erklärte: "Die Tiwag gehört uns", ebenso die Hypo-Landesbank und die Wohnbauförderung. Die Unschärfe, wer mit "uns" gemeint war, ob Land oder ÖVP, war wohl eine Art Freud’scher Versprecher.

Sponsorings für Bürgermeister

Die Tiwag im Wahlkampf: wir Tiroler gegen den Rest. Weil privaten Tiwag-Kunden der Strompreis bis Juni 2023 garantiert ist, forderte Anton Mattle, VP-Spitzenkandidat und gleichzeitig Tiwag-Aufsichtsratschef, eine "Kompensation" für das nicht in Anspruch genommene Geld aus der vom Bund beschlossenen Strompreisbremse. Auch für die "Energieversorger im Osten" soll kein Cent aus Tirol nach Wien fließen, forderte er.

Wer gegen die Tiwag ist, ist gegen Tirol. Wer gegen den Ausbau des Kaunertalkraftwerks ist, ist gegen Wasserkraft überhaupt. Diese Haltung kennt Anita Hofmann, seit sie begonnen hat, Unterschriften gegen die Tiwag-Ausbaupläne im Kaunertal zu sammeln. "Wir wurden angefeindet und waren wie gebrandmarkt", sagt sie. In Tirol sei es bei gewissen Themen schwierig, seine Meinung zu äußern.

Gegen den Ausbau des Wasserkraftwerks wehrt sich die Kaunertalerin Anita Hofmann. 2009 hat sie eine Bürgerinitiative gegründet und wurde dafür im Ort lange angefeindet.
Foto: Laurin Lorenz

Die Tiwag agierte stets auch politisch, wovon zahlreiche mehr oder weniger verdeckte Sponsorings von Bürgermeistern und Gruppierungen zeugten. Auch im Ötztal soll sich die Tiwag laut Veröffentlichungen des Bloggers Markus Wilhelm 2010 im Wahlkampf für einen Bürgermeister engagiert haben. Plötzlich tauchte ein Sparbuch auf, das die Tiwag mit mehreren zehntausend Euro an "Sponsorgeldern" füllte. Daraus machte man damals kein Hehl: Auf Regionen, wo Kraftwerke geplant seien, habe man seit jeher verstärkt einen Fokus in puncto Sponsoring gelegt, sagte der damalige Tiwag-Chef Bruno Wallnöfer.

Foto: WWF / Sebastian Fröhlich

Front bröckelt

Doch die Front gegen die allmächtig agierende Phalanx aus Tiwag und ÖVP bröckelt, denn auch in den Reihen der Schwarzen regt sich Unmut. Das zeigte sich bei Großprojekten wie im Kaunertal. Unter den Kraftwerksgegnern sind Bauern und Agrarier wie Reinhard Scheiber. Auch Touristiker wehren sich. Ernst Schöpf ist ÖVP-Bürgermeister in Sölden und prozessierte sogar gegen die Tiwag. Er will das Wasser für kleinere Kraftwerke im Ötztal selbst nutzen. In einem Verfahren unterlag Sölden der Tiwag, ein weiteres ist noch ausständig.

Ähnlich beim Ausbau des Kraftwerks Sellrain-Kühtai, für das Wasser aus Stubaier Bächen abgeleitet wird und das derzeit die größte derartige Baustelle Mitteleuropas ist. Der Tourismusverband des Tales gründete eigens eine Bürgerinitiative gegen den Kraftwerksbau.

Bröckelnde Fronten, miserable Umfragen: Die ÖVP steht für ein Modell Tirol, dessen Fundament in den vergangenen Jahren ordentlich zu wackeln begonnen hat. Der intensive Tourismus brachte Wohlstand, kommt aber an seine Grenzen. Klimawandel und Flächenfraß, gepaart mit dreister Freunderlwirtschaft und einem radikalen Wandel in der Bevölkerung weg von den ÖVP-dominierten Traditionsvereinen, zeigen die Grenzen des Wachstums auf, auch in Tirol.

Bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag droht sich diese Erosion in Zahlen niederzuschlagen.

Bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag droht sich diese Erosion in Zahlen niederzuschlagen. In welchem Ausmaß, weiß knapp vor der Wahl noch niemand. Sollte die ÖVP tatsächlich von derzeit rund 44 Prozent auf unter 30 fallen, dürfte innerhalb der Partei kein Stein auf dem anderen bleiben.

Zankapfel Tiwag

Die Opposition stilisiert den 25. September jedenfalls schon seit Wochen zur "Denkzettelwahl" und erhofft sich eine "politische Zäsur". Die Tiwag wurde im Wahlkampf zum Zankapfel. Teuerung und die Abhängigkeit vom russischen Gas offenbarten die Versäumnisse beim Ausbau von Wind- und Sonnenkraft.

Selbst die Grünen warfen dem Koalitionspartner vor, er habe "mit freundlicher Unterstützung der Tiwag" den Photovoltaikausbau über Jahre verschleppt. Der grüne Spitzenkandidat Gebi Mair stellt den Anspruch, Energielandesrat zu werden und die Tiwag zum Ausbau der Erneuerbaren zu zwingen. Mit den rund zwei Milliarden Euro, die in das Kaunertalkraftwerk fließen sollen, will er Wind- und Sonnenkraft ausbauen und damit mehr Energie in kürzerer Zeit produzieren.

Alle anderen Parteien mit Ausnahme der Liste Fritz sind für das Kaunertalprojekt und sehen den Ausbau der Wasserkraft als unabdinglich. Dieser schreitet ohnehin voran. 96 Wasserkraftwerke mit einer Leistung von insgesamt einer Terawattstunde sind in den letzten neun Jahren schwarz-grüner Zusammenarbeit ans Netz gegangen.

"Euch gehört die Tiwag!"

Alle Parteien außer der ÖVP sind sich einig, die Tiwag neu auszurichten. "Euch gehört die Tiwag", rief FPÖ-Chef Markus Abwerzger der Menge bei einer Wahlveranstaltung in Innsbruck zu. Er beschuldigte den Energieversorger der Spekulation. Vorwürfe, die das Unternehmen entschieden zurückweist.

Neos-Spitzenkandidat Dominik Oberhofer sagt, dem Hotel, das seine Familie betreibt, sei von der Tiwag gekündigt worden, es müsse nun bald den sechsfachen Strompreis bezahlen. Oberhofer spricht von "Klientelpolitik", weil laut ihm etwa Seilbahnen ihren ohnehin schon günstigeren Tarif zumindest bis kommenden Juni behalten dürfen, sein Hotel aber nicht. Es ist diese Nähe zu den Großen, allen voran der Tiwag, die der ÖVP bei der Wahl am Sonntag auf den Kopf fallen könnte. (Laurin Lorenz, Steffen Arora, 25.9.2022)