Die vergangene Woche hat die Weltpolitik besonders in Wallung gebracht. Zu erwarten war, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die 77. UN-Vollversammlung in New York dominieren wird. Kaum eine Rede, die nicht auf die eine oder andere Art und Weise die Invasion und ihre Folgen thematisiert hat. Nahezu zeitgleich aber – und das wird vermutlich kein Zufall sein – tätigte Russlands Präsident Wladimir Putin Schritte, die als Vorboten einer weiteren Eskalation in der Ukraine zu werten sind.

Unisono sehen Experten die Scheinreferenden als aus der Not geboren, in die die erfolgreich verlaufende ukrainische Gegenoffensive Putin gebracht hat.
Foto: IMAGO/Gavriil Grigorov

Zunächst wurden Anfang der Woche Scheinreferenden im Donbass angekündigt, konkret für die von Moskau weitgehend kontrollierten selbsternannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk, sowie in den von der russischen Armee besetzten Teilen der Gebiete Saporischschja und Cherson.

Erwartbares Ergebnis

Die Scheinreferenden starteten am Freitag und werden bis Dienstag dauern. Zu erwarten ist, dass sich offiziell eine Mehrheit für eine Angliederung an Russland ausspricht. So kann Moskau den Verteidigungs- und Rückeroberungskampf der ukrainischen Truppen in diesen Gebieten als Angriff auf eigenes Territorium werten. Putins Worten zufolge könnte dieser Fall einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen nach sich ziehen.

Unisono sehen Experten die Scheinreferenden als aus der Not geboren, in die die erfolgreich verlaufende ukrainische Gegenoffensive Putin gebracht hat. Denn der Kriegsverlauf dreht sich seit Wochen, seit Kiews vom Westen mit Waffen ausgestattete Streitkräfte im Osten und Süden des Landes mehr und mehr Gebiete zurückerobern.

So verkündete das britische Verteidigungsministerium am Freitag in seinem täglichen Briefing, dass Russlands Truppen mittlerweile in Gebieten unter Druck stünden, die Moskau für seine Kriegsziele als entscheidend ansehe. Konkret ausgedrückt: Russlands Verteidigungslinie wankt so sehr, dass die Ukraine bald auch Teile der "Volksrepublik" Luhansk zurückerobern könnte.

Ausgedünnte Truppen

Am Mittwoch folgte der laut Experten nächste Verzweiflungsschritt Putins, als er eine Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte ankündigte, was eine Einberufung von 300.000 oder mehr Reservisten bedeutet. So wie viele andere westliche Analytiker sagte Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck, Putin habe damit "einer militärischen Notwendigkeit nachgegeben, vor der er sich lange gedrückt hat". Denn die Reihen der russischen Truppen in der Ukraine seien ausgedünnt.

Mit diesem Schritt hat sich Putin einem innenpolitischen Druck mitsamt Massenprotesten und Massenflucht ausgesetzt, den er gerne vermieden hätte. Doch zahlt sich dieses riskante Manöver, sofern es sich umsetzen lässt, für Putin überhaupt aus? Laut Mangott könnte sich die Lage für Moskau sogar noch verschlimmern, haben doch die russischen Truppen bereits jetzt mit logistischen Problemen an der Front zu kämpfen. Die Reservisten "müssen an die Front gebracht, ausgestattet, verpflegt werden – und es muss eine Rotation der Truppenteile möglich sein", so der Experte. All dies fordert die russische Logistik zusätzlich heraus.

US-Militärhistoriker Phillips P. O’Brien twitterte, die Teilmobilmachung sei das Minimum gewesen, was Putin habe tun können. Ansonsten hätte seiner Armee die Gefahr gedroht, dass ihr die Soldaten in der ersten Hälfte 2023 ausgehen. "Das scheint mehr ein Schritt zu sein, der die Niederlage Russlands hinauszögert." Ins gleiche Horn stieß Militärexperte Rob Lee: "Dieser Schritt ist dazu gedacht, einen Zusammenbruch der russischen Linien vor dem Frühling zu verhindern."

Von der Teilmobilmachung, sofern sie zustande kommt, sind mit 300.000 Reservisten etwa 1,2 Prozent der rund 25 Millionen potenziellen russischen Reservisten betroffen. Den nächsten Schritt, eine Generalmobilmachung der russischen Streitkräfte, halten Experten logistisch für nahezu unmöglich.

Option Atomwaffen?

Nachdenklich stimmt den Westen aber Putins erneute Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz. Diesen halten Analysten für die allerletzte Option des Kreml-Chefs. Wann dieser die Zeit dafür reif sieht, weiß allerdings wohl nur er selbst.

Während Putin weiter mit den innerrussischen Widerständen zu kämpfen hat und die Welt gespannt darauf wartet, was Russland nach den Scheinreferenden tun wird, will der Westen den Druck auf Moskau erhöhen. Als Reaktion auf die Teilmobilmachung plant die EU ein weiteres Sanktionspaket, muss dafür aber den fast schon traditionellen Widerstand Ungarns überwinden.

Und eine UN-Untersuchungskommission erklärte am Freitag, dass es im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu Kriegsverbrechen gekommen sei. Vorsitzender Erik Møse nannte dabei unter anderem Luftangriffe auf bewohnte Gebiete, die große Anzahl an Erschießungen und Massengräber.

Der Norweger berichtete auch von Fällen, in denen Kinder "vergewaltigt, gefoltert und illegal festgehalten" wurden. Von Wladimir Putin gab es dazu, wie auch schon bei ähnlichen Vorwürfen in der Vergangenheit, keine Reaktion. (Kim Son Hoang, 24.9.2022)