Wien – Der ideologische Turnaround scheint geschafft. Viel zu lange als schwerfälliger und steuergeldfressender Koloss verunglimpft, genießt der Staat seit den milliardenschweren Hilfszahlungen in der Corona-Krise wieder größeres Ansehen. Grund genug, meinen Markus Marterbauer und Martin Schürz, um den atmosphärischen Umschwung in handfeste Politik umzumünzen.

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Einzelne Milliardäre bunkern ungeheure Reichtümer. Führt die Vermögenskonzentration in eine "Fassadendemokratie"?
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Wie das funktionieren könnte, lässt sich seit dieser Woche facettenreich auf gut 380 Seiten nachlesen. "Angst und Angstmacherei" heißt das Buch, das im Zsolnay-Verlag erschienen ist. Beide Autoren bauen ihr Plädoyer "für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht" auf jahrzehntelanger Expertise auf. Als Chefökonom der Arbeiterkammer ist Marterbauer eine konsequente wie reflektierte Stimme gegen den – so das eigene Diktum – "neoliberalen Anti-Etatismus". Schürz, Volkswirt bei der Nationalbank, nimmt als einer der wichtigsten Vermögensforscher des Landes immer wieder jene Kräfte aufs Korn, die im Buch unter dem Label "Vermögensverteidigungsindustrie" firmieren.

Angst vor dem Abstieg

Der erste Teil des Titels muss in Zeiten von Pandemie und Preisexplosion nicht lange erörtert werden. Wer aber sind die dunklen Mächte, die gezielt noch mehr Furcht verbreiten? Konservative Wirtschaftspolitik, so die Kernthese des Buches, setze auf Angstmacherei – um Arme und Arbeitende kleinzuhalten und zu einem genehmen Verhalten zu nötigen.

Als Beispiel führen Marterbauer und Schürz etwa einen Vorschlag an, den die ÖVP in der Regierung gegen die Grünen durchzusetzen versucht. Welcher Gedanke könne sonst hinter einem degressiven, also mit der Bezugsdauer sinkenden Arbeitslosengeld stecken, als Angst vor dem Abstieg zu schüren? Nicht nur Arbeitslose sollten so in miese Jobs getrieben werden, auch an prekär Beschäftigte richte sich die Botschaft: Kuscht lieber und steht nicht für eure Rechte ein!

Ungleiche Gesellschaftsordnung

Die Politik des Unter-Druck-Setzens ignoriere nicht nur die oft schicksalhaften Vorgeschichten, die Leute in die Arbeitslosigkeit gebracht hätten, so die Argumentation. Indem Betroffenen suggeriert werde, sie seien an ihrer Notlage selber schuld, stabilisierten die solcherart angefachten Ängste auch die ungleiche Gesellschaftsordnung.

Doch lässt sich dieses Bild einfach verallgemeinern? Schließlich berichten Unternehmer immer wieder, dass das Arbeitsmarktservice massenhaft Bewerber schicke, von denen niemand wirklich den Job wolle. In manchen Berufen verdienten Beschäftigte immer noch weniger, als in anderen Branchen bereits Lehrlinge bekommen, halten die Autoren mit Zahlen untermauert entgegen – und drehen den Spieß um. Das Problem seien nicht die angeblich zu hohen, aber de facto unter der Armutsgefährdungsschwelle liegenden staatlichen Leistungen, sondern zu niedrige Löhne.

Ablaufdatum für Ausbeuterjobs

Dass die Möglichkeiten der Unternehmen schlicht keine bessere Bezahlung erlaubten, glauben die beiden Ökonomen nicht. Schließlich böten angesichts der aktuellen Arbeitskräfteknappheit plötzlich selbst notorisch schlecht zahlende Gewerbe wie Friseurbranche attraktivere Konditionen an.

Folglich sei es falsch, Personalmangel – wie derzeit ausgiebig der Fall – als Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung zu beklagen. Was man in den 1970er-Jahren noch Vollbeschäftigung genannt habe, sorge vielmehr dafür, dass unterdotierte Ausbeuterjobs vom Markt verschwinden.

Grenzen setzen: So lautet eine zentrale Empfehlung des Buches. Doch Marterbauer und Schürz fordern nicht nur eine bessere Absicherung nach unten, wofür der im Buch intensiv auf Defizite abgeklopfte Sozialstaat von der Pflege- über die Bildungs- bis zur Wohnungspolitik aufrüsten müsse. Ebenso nötig seien Limits für die Allerreichsten nach oben, wolle die Republik nicht zur geldgesteuerten "Fassadendemokratie" verkommen: Was in den USA längst offensichtlich sei, zeichne sich auch hierzulande ab.

Plädoyer für den Ausbau des Sozialstaats: Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer.
Foto: Robert Newald

Wieder sei Angstmacherei eine bevorzugte Waffe der neoliberalen Widersacher. Eine auf Vermögen ab einer Million Euro eingehobene Steuer würde gerade einmal die reichsten vier Prozent der Bevölkerung treffen, rechnen die Autoren vor. Trotzdem tue die Vermögensverteidigungsindustrie so, als werde die Mittelschicht geschröpft.

Für Armutsbekämpfung, den Ausbau des Sozialstaates und eine Steuersenkung für Arbeitseinkommen würden Marterbauer und Schürz die erhofften Milliarden aus solch einer allgemeinen Vermögensteuer ausgeben. Dazu veranschlagen sie die Erlöse einer Erbschafts- und Schenkungssteuer für die Pflege.

Schnitt bei einer Milliarde Euro: Vermögensforscher Martin Schürz.
Foto: Andy Urban

Doch das allein genüge nicht. Wolle man den "Überreichtum" und die damit verbundene politische Macht wirklich beschneiden, brauche es eine Obergrenze für Vermögen. Die Höhe solle demokratisch ausgehandelt werden, schreiben die Autoren, machen aber doch einen Vorschlag: Bei einer Milliarde solle der Schnitt erfolgen – auf dass die Demokratie der vielen vor dem Einfluss der wenigen gerettet werde.

Dies sei weniger ein Tabubruch, als man in einem bürgerlichen Reflex vermuten möge: Das deutsche Grundgesetz definiere Vermögen als sozialpflichtig, also nicht bedingungslos. Und auch das heimische Forstgesetz berge nichts anderes als eine Einschränkung des Eigentumsrechts, indem es die Durchwanderung privater Wälder erlaube.

Milliardäre und hungernde Kinder

Auf Detailfragen, wie das eingezogene Vermögen nach dem Schnitt verwendet werden soll, lassen sich die Autoren nicht ein, erst einmal gehe es um eine Debatte – notwendigerweise weltweit. Denn es könne nicht sein, dass sich 2750 Milliardäre den Kopf zerbrechen, wie sie das Weltall erobern, während immer noch Kinder verhungern.

"Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht". € 26,80 / 384 Seiten. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2022.
Zsolnay

Wäre es mit der Bekämpfung der Auswüchse getan? Oder solle besser gleich das System gesprengt werden? Vor einem Kapitalismus, der nicht eingehegt ist, müsse man sich in jedem Fall fürchten, so die Conclusio, mit besserer Absicherung nach unten und Grenzen nach oben wäre schon einmal viel erreicht. Doch die gemachten Vorschläge erheben durchaus den Anspruch, erweiterbar zu sein – um eine Vision jenseits des Kapitalismus zu eröffnen. (Gerald John, 26.9.2022)