Eigenverantwortung hat schon beim Autofahren so grandios funktioniert, dass abertausende Parkwächter und hunderttausende Polizisten ihre Jobs an den Nagel hängen mussten. Eben.

Kurz: Die politisch geforderte Eigenverantwortung kommt dann, wenn man nicht weiterweiß oder nicht weiterwissen will. Vielleicht lieber optimistisch sein und annehmen, dass diese Regierung einfach zu 110 Prozent an das von ihr regierte Volk glaubt. Die Regierenden sind aber nur eine Seite der Medaille. Die andere sind die Bürger. Fühlen sich die einen für die Mitmenschen nicht verantwortlich, ziehen die anderen nicht nach. Was bereits Corona offenlegte, geht mit Energiekrise und Verunsicherung durch die Weltlage weiter.

Reichte eine einzige Runde Sebastian Kurz, um die Gesellschaft erst blass, dann rot, dann schwitzend und dann rücksichtsloser werden zu lassen?
Foto: IMAGO/Alexey Vitvitsky

Was von oben vermittelt wird, wird von unten mit offenen Händen aufgenommen. Rücksicht ist Schwäche, Bedürftigkeit jeder Art ist Faulheit, Aggression ist Schutz. Das, was man früher gesellschaftlichen Zusammenhalt nannte – wohin ist es entschwunden? Reichte eine einzige Runde Sebastian Kurz, um die Gesellschaft erst blass, dann rot, dann schwitzend und dann rücksichtsloser werden zu lassen?

So leicht kann man es sich nicht machen. Die Bereitschaft zur Entsolidarisierung ist offenbar groß. Das ist die Ernte jener Früchte, die die propagierte Ich-AG und die hasserfüllte populistische Rhetorik ausgesät haben. Und man wird, wenn die Schrauben noch fester angezogen werden, auch Sturm ernten. (Julya Rabinowich, 25.9.2022)