Der Nullpunkt des Politischen ist die Beschimpfung, die sprachliche Aggression des Gegners. Spott und Hohn begleiten Politik auf dem schmalen Grat zwischen Gewalt auf der einen und Gesellschaftsgestaltung auf der anderen Seite. Viele politische Gruppierungen der Neuzeit tragen den Stempel der Beschimpfung im Namen. Man denke an die französischen "Sansculottes", Menschen ohne die Kniebundhosen, die Adel und Großbürgertum trugen. Manche Bezeichnungen sind noch heute in Gebrauch, etwa "Tories" (aus dem irischen tóraí, Bandit).
Die Französische Revolution machte aber einen scharfen Schnitt. Die Nationalversammlung unterteilte politische Gruppierungen nicht mehr nach Stand oder Stempel, sondern ließ in cartesianischer Strenge nur die räumliche Zuordnung in links und rechts des Vorsitzenden zu.
Dass wir diese Begriffe 230 Jahre später immer noch verwenden, verdanken wir der mittlerweile unübersehbaren Vielfalt von Definitionen "linker" und "rechter" Politik.
Wegen dieser Vielfalt, und weil unsere politischen Systeme heute zu komplex sind, wird zunehmend versucht, die Rechts-links-Achse durch Hinzufügen weiterer Achsen zu einem umfassenden Ordnungsschema des Politischen zu machen: starke/schwache Staatsgewalt, libertär/autoritär, individualistisch/kollektivistisch und so weiter. Als Alternative werden sogar Hufeisen bemüht.
Die Tatsache, dass rechts/links auf diese Weise ergänzungsbedürftig ist, macht deutlich, dass es mittlerweile obsolet ist. Politik lässt sich über eine Raummetaphorik nicht annähernd brauchbar beschreiben.
Offene und geschlossene Gesellschaft
Besser funktioniert die etwas in die Jahre gekommene, von Sir Karl Popper geprägte Dichotomie von offener und geschlossener Gesellschaft. Sie setzt das Unterscheidungskriterium nicht mehr als Kategorisierung der Antworten auf die Frage nach der richtigen Gesellschaftsform, sondern indem sie die Vereinbarkeit politischer Positionen mit der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens bewertet.
Nicht einmal die Demokratie ist Popper "heilig" (was schon deswegen schwierig gewesen wäre, weil die Nationalsozialisten demokratisch legitimiert an die Macht kamen), sondern ist anderen Formen insofern vorzuziehen, als sie gewaltfreien Machtwechsel zulässt.
"Offen" ist eine Gesellschaft dann, wenn sie ihre Regeln als laufend revidierbare Versuche begreift, das Zusammenleben unblutig und mit dem Ziel der Leidensminimierung organisiert – und diese Revidierbarkeit sicherstellt. Die Dichotomie offen/geschlossen ist, anders als jene von links und rechts, gegenüber konkreten politischen Positionen und Zielen grundsätzlich neutral, bewertet aber die politische Praxis: Kennzeichen einer offenen Politik wären Faktenbezogenheit, Lösungsorientiertheit und Transparenz. Kennzeichen einer geschlossenen Politik sind etwa Machtsicherung und Nepotismus, Desinformation und Hetze. Genau in dieser Bescheidenheit konkreten politischen Inhalten gegenüber eignet sich Popper zur Orientierung in komplexen Gesellschaften.
Von den Begriffen "links" und "rechts" sollten wir uns verabschieden; sie gehören, mit den Worten Leo Trotzkis, auf den Müllhaufen der Geschichte. (Veit Dengler, 26.9.2022)