Psychologin Birgit Maurer sagt: "Für die Verliebtheitsphase am Anfang hat man eher Verständnis, für das, was mit dem Ende einer Beziehung einhergeht, weniger."

Foto: Heribert Corn

Die Psychologin und Psychotherapeutin Birgit Maurer betreibt seit 2008 ihre Praxis mit Beratungsschwerpunkt Liebeskummer in Wien – die erste dieser Art in Österreich. Was sie seither über Beziehungen gelernt hat und warum sie darauf pocht, Liebeskummer nicht als Teenagerkrankheit abzutun, darüber spricht die Expertin im Interview.

STANDARD: In der einen oder anderen Form macht so ziemlich jeder im Leben Erfahrungen mit Liebeskummer. Trotzdem, so kritisieren Sie, werde er als etwas abgetan, das vor allem Jugendliche betrifft. Warum wird Liebeskummer Ihrer Meinung nach so wahrgenommen?

Maurer: Die Gefühle, die damit einhergehen, sind häufig schambehaftet: Traurigkeit, Wut, Verzweiflung, Ärger, Ohnmacht. Viele denken, Liebeskummer habe man mit 16 oder 18 Jahren, und ab dann müsse man mit diesen Gefühlen allein klarkommen. Das ist aber nicht so. Wir haben hier 80-Jährige. Liebeskummer hat keine Altersbeschränkung. Es gibt Leute, die nach einer Trennung nicht mehr arbeitsfähig sind. Viele beschäftigen sich jahrelang mit dem Schmerz – sei es, weil Kinder involviert sind oder weil man nicht mehr weiß, wie man der verletzten Freundin weiterhelfen kann. Dem Prozess, Kummer zu bewältigen, wird wenig Zeit eingeräumt. Für die Verliebtheitsphase am Anfang hat man eher Verständnis, für das, was mit dem Ende einer Beziehung einhergeht, weniger. Bei der Gründung der Liebeskummer-Praxis vor 14 Jahren dachten viele automatisch, wir würden mit Teenagern arbeiten. Inzwischen wird das schon ein wenig anders gesehen.

STANDARD: Woran liegt das?

Maurer: Zum einen werden wir älter und haben meist mehrere Partnerschaften und damit immer wieder Kummer und Trennungen zu bewältigen. Hinzu kam das Internet, das in Sachen Liebe ja Segen und Fluch zugleich ist. Es gibt leichteren Zugang zu neuen Bekanntschaften. Das kann auch vermehrt zu Affären führen, was eine weitere Form von Liebeskummer mit sich bringt – und damit auch die Frage, wie man mit Betrug umgeht.

Was nicht fehlen darf in der Liebeskummer-Praxis: Taschentücher, um Tränen zu trocknen.
Heribert Corn

STANDARD: Ist es auch Liebeskummer, wenn man wegen einer zerbrochenen Freundschaft leidet?

Maurer: Die bekannteste Form von Liebeskummer ist jene nach einer Trennung, aber es gibt auch andere Formen von Liebeskummer: Desillusionierung mit der virtuellen Welt bei der Onlinepartnersuche zum Beispiel ist ein neueres Thema. Oder destruktive Beziehungen, die sich konfliktreich gestalten, oder Partnerschaften, denen verschiedene Störungen wie Narzissmus oder Depression zugrunde liegen – da kommen oft die Partner, die darunter leiden. Affären und Einsamkeit sind große Themen, Konflikte durch Patchworkfamilien, mangelnde Selbstliebe, familiärer Streit oder Verlust der besten Freundin, etwa wenn eine Freundin ein Baby bekommen hat, die andere hingegen in einer anderen Lebensphase steckt. Mit dem Verlust eines Menschen geht auch der Verlust eines gesamten Systems einher, was destabilisierend wirken kann.

STANDARD: Wer kommt weshalb zu Ihnen, und hat sich das im Laufe der Zeit verändert?

Maurer: Zu mir kommen alle: jung, alt, alle sexuellen Orientierungen, Berufe, Gesellschaftsschichten. Menschen, die sich scheiden lassen, oder auch viele Paare, die um die 30 Jahre alt sind und an einem Wendepunkt, wo sich eine Person für Familie und Hausbau entscheidet, die andere aber für ein neues Abenteuer. Was sich stark verändert hat, ist, dass viel mehr Männer zu mir kommen als früher. 98 Prozent von ihnen sagen, dass sie in die Praxis gekommen sind, weil das Thema Liebeskummer so prominent benannt wird, und dass sie ansonsten nicht auf die Idee gekommen wären, deshalb das Gespräch zu suchen. Das war auch der Grund, warum wir – damals ich mit einer Kollegin zusammen – die Praxis so genannt haben.

STANDARD: Sie wollen Liebeskummer gesellschaftsfähiger sehen?

Maurer: Es geht letztlich immer um die Liebe. Ich habe im Laufe meiner beruflichen Karriere als Psychologin im Behindertenbereich, im Kosovo mit dem österreichischen Militär, beim AMS mit Langzeitarbeitslosen und in der Justizanstalt in Favoriten gearbeitet – am Ende ging es immer und überall um das Suchen, Finden, Bewahren und Verlieren der Liebe. Jeder, der sich auf die Liebe einlässt, hat irgendwann einmal Kummer – und wenn es nur Streitereien in der Beziehung sind. Viele denken immer noch, sie müssten das allein hinbekommen. Schokolade essen und mit Freundinnen reden kann funktionieren, aber in manchen Fällen ist der Kummer sehr hartnäckig und nagt an unserem Selbstwertgefühl.

STANDARD: Warum sind manche Menschen emotional besser dafür gerüstet als andere?

Maurer: Wenn es hartnäckig ist, gibt es meistens eine Verknüpfung mit der eigenen Familiengeschichte. Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Trennungen. Wie man mit Verlusten umgeht, hängt oft damit zusammen, wie man innerhalb der Familie mit Verlusten umgegangen ist und wie gut das eigene Selbstwertgefühl genährt wurde.

Die Couch in der Liebeskummer-Praxis.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Und wann wird Liebeskummer zum emotionalen Ausnahmezustand?

Maurer: Ähnlich wie bei Trauer und Tod kann Liebeskummer völlige Destabilisierung auslösen. Man verliert die Fassung, das geht einher mit körperlichen Symptomen wie Schockzuständen, Panikattacken, dem Broken-Heart-Syndrom. Im Frustzustand können viele nicht mehr essen, oder sie greifen ständig zum Essen, entwickeln Süchte, beginnen wieder zu rauchen, nehmen Medikamente. Einige können ihren beruflichen oder Alltagsverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Manche ziehen sich völlig zurück, andere stürzen sich ins soziale Leben. Das Ganze kann eine ziemliche Spirale nach unten auslösen, bis hin zu Suizidgedanken. An diesem Punkt ist es notwendig, sich Unterstützung zu organisieren, um diesen Schmerz zu versorgen und neue Perspektiven zu schaffen.

STANDARD: Welche Veränderungen haben Sie in Sachen Liebesbeziehungen im Laufe der Zeit in Ihrer Praxis beobachtet?

Maurer: Es gibt heute beides parallel: einen gewissen Beziehungs-Biedermeier-Geist, also Rückzug ins Private, eine Sehnsucht nach Zweisamkeit und Familie. Und es gibt eine große Offenheit bei Beziehungsformen oder in Sachen Geschlechtszugehörigkeit. Beim Sexuellen bricht vieles auf, weil man sich alles anschauen kann im Internet. Es geht auch früher zur Sache: 14-Jährige haben schon Analsex und schicken sich auf Whatsapp Begriffe, die schon sehr ins Pornografische gehen.

STANDARD: Sie bieten auch Onlinestunden an. Wie unterscheiden sich die Themen in der Stadt von jenen in ländlicheren Gebieten?

Maurer: Für viele ist in kleineren Ortschaften eine Trennung schwieriger vorstellbar, Themen wie Scheidung oder Homosexualität sind in ländlicheren Gebieten häufig noch immer sensiblere als in einer Großstadt wie Wien, wo man mehr gewohnt ist.

Psychologin Birgit Maurer.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Das Internet haben Sie in puncto Liebe bereits als Fluch und Segen bezeichnet ...

Maurer: Es ist mehr Vielfalt da. Das kann aber gleichzeitig zu Erschöpfung führen: zu viele Dates, zu viele Emotionen, man ist getrieben von der großen Auswahl, glaubt immer, dass noch etwas Besseres kommen könnte. Oft werden durch das viele Schreiben Emotionen aufgebaut, die dann in der Realität ein schnelles Ende finden, und man geht enttäuscht heim.

STANDARD: Was haben Sie für sich im Laufe Ihrer Arbeit über Beziehungen gelernt?

Maurer: Böse Zungen würden wohl behaupten, ich bin durch den Kummer, den ich begleite, desillusioniert. Ich sage, dass ich einen klareren beziehungsweise gelasseneren Blick entwickelt habe. Wer sich auf eine Beziehung einlässt, geht das Risiko ein, verletzt zu werden – und das wird man, auch in einer guten Beziehung. Eine Beziehung zu führen heißt, auch einmal zu enttäuschen, das kann im Kleinen passieren, etwa bei der Alltags- oder Urlaubsgestaltung. Was sich für mich verfestigt hat: sich selbst liebevoll behandeln und ein eigenes Leben beibehalten. (Anna Giulia Fink, 27.9.2022)