Erica Eloff als Marietta in Korngolds "Die tote Stadt".

Reinhard Winkler

In Zeiten der allgemeinen Zukunftsskepsis hat Vergangenheitsseligkeit Hochkonjunktur. Auch im vor sich dahinbröckelnden Brügge sehnt sich der Eigenbrötler Paul zurück in eine Zeit, in der seine Frau Marie noch gelebt hat. Doch die sexpositive Marietta – "Lust quillt aus mir" – lockt den "Düsterling" mit vollem Körpereinsatz ins Leben zurück. Der fromme Witwer ist erst entflammt und dann entsetzt, schändet die Sünderin doch die Reliquien seiner heiligengleichen Marie. Da flammt ein alttestamentarischer Furor in ihm auf …

Ja: Mit Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt gibt sich die erste Premiere am Landestheater Linz so vergangenheitsfixiert wie ihr Protagonist. Man könnte das 1920 uraufgeführte Werk als eine "Schlageroper" bezeichnen. Der damals 23-jährige Komponist etablierte in seinem Opus zwölf schmeichelhafte Klangwelten, die verführerisch zwischen Richard Strauss und Robert Stolz vagabundieren und sogar einen Hit beinhalten: Glück, das mir verblieb. Man kann in der Toten Stadt schon Korngolds Bewerbungsschreiben für Hollywood erkennen; die Filmstadt sollte es in den 1930er-Jahren positiv beantworten und die Arbeitsleistung des emigrierten Österreichers sogar mit zwei Oscars bonifizieren.

Mehr ist mehr

Korngolds Kompositionsprinzip des "Mehr ist mehr" bringt es mit sich, dass das Klangbild des Werks mitunter dem Kostümdepot eines Revuetheaters ähnelt: Alles funkelt und schillert. Der viele Süßstoff fürs Ohr birgt die Gefahr einer emotionalen Überzuckerung, doch Markus Poschner rührt den Klangteig mit dem Bruckner-Orchester Linz dankenswerterweise behutsam und fluffig an. Der Linzer Musikchef geht ja jedes Jahr im Herbst eine große Premiere an, 2018 zum Beispiel Tristan und Isolde. In diesem Sommer konnte der 51-Jährige seine Erfahrung mit Richard Wagners Werk dann überraschend bei den Festspielen in Bayreuth unter Beweis stellen: ein weiterer Karrierehöhepunkt des Bayern, ein Ritterschlag.

Vergangenheitsselig und also ziemlich schön anzuschauen ist auch die Inszenierung von Andreas Baesler geraten. In einer reduzierten Retrokulisse (Bühne: Harald B. Thor, Kostüme: Tanja Hofmann) mischen sich die Bilderwelten von Alfred Hitchcock und Fritz Lang (als Großprojektionen im Bühnenhintergrund). Für Suspense sorgt auch das Setting gleich zu Beginn: Paul wird in Baeslers Einrichtung in einem Sanatorium von Ordensschwestern betreut. Ein Kommissar geht in seinem Zimmer um. Was das wohl zu bedeuten hat?

Ausladende Partie

Die kantilenenmäßig äußerst ausladende Partie des Paul wird von Andreas Hermann mit tenoraler Kraftausdauer bewältigt. Der deutsche Gast singt und singt und singt – und klingt dabei sogar wie ein Zwischenkriegstenor und nur am Schluss etwas angestrengt.

Erica Eloff interpretiert die Marietta mit dramatischer Strenge, findet aber auch zu Zartheit. Im Spiel hätte man dem bejubelten Ensemblemitglied die flatterhafte Beweglichkeit einer Ilona Revolskaya gewünscht, aber die gibt ja die Juliette. Adam Kim singt (als Pierrot Fritz) den Ohrenschmeichler Mein Sehnen, mein Wähnen mit sorgsamer Dezenz und weichem Bariton. Ein Sir: Martin Achrainer als Pauls Freund Frank; eine Stütze: Manuela Leonhardtsberger als Pauls Perle (hier Schwester) Brigitta.

Strahlende Zukunft

Nach dem bejubelten Start wünscht man Intendant Hermann Schneider und der Saison in Linz weitere freudvolle Stunden, zum Beispiel mit Gräfin Mariza (ab Oktober), mit Verdis La forza del destino im Jänner (von Peter Konwitschny "extrem verdichtet") und mit Wagners Meistersinger von Nürnberg (ab April, wieder dirigiert von Poschner). The future is bright. (Stefan Ender, 26.9.2022)