Die Forscher Fadel Adib und Sayed Saad Afzal mit ihrer Entwicklung.
Foto: Adam Glanzman / MIT

Etwas mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche sind von Ozeanen bedeckt. Dass wir über die Tiefen der Meere weniger wissen als über die Rückseite des Mondes, ist Legende und Gegenstand unzähliger Science-Fiction-Erzählungen – beispielsweise von Frank Schätzings Ökothriller "Der Schwarm" oder James Camerons Tauchepos "Abyss". "Hic sunt dracones", hieß es in alten Seekarten, wenn über Gebiete nichts bekannt war – "Hier gibt es Drachen". Für die Tiefsee kann das, angesichts der Schätzungen, dass nur etwa ein Drittel der dort lebenden exotischen Lebewesen bekannt ist, noch heute gelten.

Dabei ist die Kenntnis der Tiefseelebewesen auch für die Einschätzung der Folgen des Klimawandels von zentraler Bedeutung, wie Beispiele aus der Vergangenheit des Planeten zeigen. Doch die Erforschung der Ozeane ist ressourcenintensiv und teuer.

Eine Forschungsgruppe vom Massachusetts Institute of Technology hat sich mit der Schwierigkeit von unterseeischen Langzeitbeobachtungen in Echtzeit auseinandergesetzt und die heute üblichen kabelgebundenen Systeme als Hemmschuh identifiziert. Zur Lösung des Problems hat das Team eine kabellose Unterwasserkamera entwickelt, die das Potenzial hat, die Meeresforschung zu revolutionieren. Das nun im Fachjournal "Nature Communications" vorgestellte Gerät arbeitet 100.000-mal energieeffizienter als bisherige in der Forschung verwendete Unterwasserkameras und bedient sich dazu einiger außergewöhnlicher Tricks.

Die kabellose Kamera besteht aus dem zentralen Element mit Bildsensor und Elektronik sowie der Blitzlichtanlage, hier auf der linken Seite.
Foto: Adam Glanzman / MIT

Die vielleicht auffälligste Eigenschaft der neuen Kamera ist das Fehlen einer Batterie. Als Energiequelle dient stattdessen Schall. Dass Wasser Schall besser überträgt als Luft, mag vielen von den Badetagen des vergangenen Sommers noch in Erinnerungen sein, wenn Motorboote erschreckend nah klingen, obwohl sie in Wirklichkeit noch weit entfernt sind. Das macht Schall zu einer geeigneten Energiequelle, um damit elektronische Geräte wie die Forschungskamera zu betreiben.

Um den Schall in Elektrizität umzuwandeln, setzte das Forschungsteam auf Piezoelektrizität. Letztere ist eine Eigenschaft bestimmter Kristalle, wie zum Beispiel Quarz. Bedingt durch ihre besondere chemische Struktur reagieren sie auf Druck mit einer elektrischen Spannung. (Der umgekehrte Effekt – sich minimal zu bewegen, wenn Spannung angelegt wird – ist übrigens die Grundlage vieler Präzisionsanwendungen wie bei Quarzuhren oder Rasterkraftmikroskopen.) Diese Energie wird gesammelt, bis sie ausreicht, um ein Bild aufzunehmen und zu versenden.

Drei Blitzanlagen

Eine Besonderheit der Neuentwicklung ist, dass sie bei den im Ozean vorhandenen schlechten Lichtverhältnissen Farbbilder aufnehmen kann, obwohl der Bildsensor aus Energiespargründen nur Schwarz-Weiß-Aufnahmen erlaubt. "Als wir als Kinder in den Kunstunterricht gingen, lernten wir, dass wir alle Farben aus drei Grundfarben herstellen können", sagt Fadel Adib, einer der Studienautoren. Dasselbe gelte auch für Computerbilder. Die nun vorgeschlagene Lösung nutzt drei verschiedene LED-Blitzlichter in den Farben Rot, Grün und Blau. Die Kamera nimmt also in kurzer Abfolge eigentlich drei Bilder auf, die zu einem Farbbild zusammengesetzt werden. Möglich ist das dank der Dunkelheit in der Tiefe.

Bei kabellosen Forschungssonden stellt sich allerdings die Frage nach der Übertragung der Bilder. Auch hier ging das Team völlig neue Wege. Die Information der Bilder wird ebenfalls mittels Schall übertragen, und zwar Bit für Bit. Doch um Energie zu sparen, ist die Schallquelle nicht an der Kamera, sondern am Empfänger installiert. Letzterer sendet Schallimpulse, ein Spiegel an der Kamera kann diese entweder reflektieren oder absorbieren. Der Empfänger kann aus dem Reflexionsmuster der Kamera die Information rekonstruieren. "Dieser Prozess verbraucht fünf Größenordnungen weniger Strom als die typischen Unterwasserkommunikationssysteme, da nur ein einziger Schalter erforderlich ist, um das Gerät von einem nicht reflektierenden Zustand in einen reflektierenden Zustand umzuwandeln", erklärt Sayed Saad Afzal. Beim Prototypen war es die Energie dieser Schallpulse, die zum Aufladen der Kamera verwendet wurde.

Erfolgreiche Tests

Das Team testete seine neue Kamera in verschiedenen Gewässern und konnte erfolgreich die Funktion demonstrieren, wie die Bilder in der Publikation zeigen. Bislang wurde die Datenübertragung nur bis zu einer Reichweite von 40 Metern getestet. Als Nächstes will man sich daher ansehen, wie sich dieser Wert erhöhen lässt. Außerdem soll die Kamera einen Speicher bekommen, der ihr erlaubt, Videos aufzunehmen.

Das wichtigste Einsatzgebiet der Neuentwicklung sei die Klimaforschung, sagt Fadel Adib, Professor am MIT, Leiter der Gruppe für Signal Cinetics und Erstautor der Publikation: "Wir bauen Klimamodelle, aber uns fehlen Daten von über 95 Prozent des Ozeans. Diese Technologie könnte uns helfen, genauere Klimamodelle zu erstellen und besser zu verstehen, wie sich der Klimawandel auf die Unterwasserwelt auswirkt." (Reinhard Kleindl, 26.9.2022)