So viel ändert sich in unserem Leben, unserer Politik, unserer Gesellschaft, und doch bleiben so viele alte, leere, öde Rituale. Das merkt man oft nur an kleinen Banalitäten: "... wir schalten jetzt in die Wahlzentrale der XY-Partei", heißt es im Fernsehen, und kaum merken die versammelten Parteigänger, dass die Kamera auf sie gerichtet ist, wechseln sie von bedrückten Gesichtern auf falsches Siegesgrölen. Dann kommen die aus der zweiten und dritten Reihe und dürfen ihre Plattitüden absondern. Öd, öd, öd. Sowohl die Politik als auch große Teile der Berichterstattung.

In Brasilien werden nach einer Wahlniederlage Feuer in den Regenwäldern gelegt.
Foto: IMAGO/Fotoarena/Ton Molina

Wir haben Krieg in Europa. Ein russischer Despot, der sich verrannt hat, droht mit Atomwaffen. Faschismus führt unweigerlich in den Graben, die Menschen in Italien wählen den Faschismus. Im theokratischen Iran werden junge Frauen zusammengeschossen, die sich ihr Leben nicht mehr von bösen alten Männern vorschreiben lassen wollen. In Brasilien fackelt ein Faschist den Regenwald ab und hetzt seine bewaffneten Anhänger auf, eine Wahlniederlage nicht zu akzeptieren. In den USA arbeitet ein früherer Präsident und ein großer Teil seiner Partei an der De-facto-Abschaffung des Wahlrechts für Nichtweiße und der Demokratie.

Unser Leben wird nicht so wie bisher weitergehen. Große Teile der Politik und der Publizistik ahnen das, sind aber überfordert und flüchten sich in alte Rituale. Das ist fatale Realitätsverweigerung. (Hans Rauscher, 26.9.2022)