Im Gastblog plädiert Sabine Pollak für eine Gesellschaft der offenen Räume. 

Als wir in den 1990er Jahren unsere Wohnung renovierten, entfernten wir etliche Türen. Die langgestreckte Wohnung (und Architekturbüro zugleich) wurde heller und offener, und das kleine Kind konnte rund um die Küche mit diversen Fahrzeugen im Kreis fahren, ohne gegen Türen zu krachen. Als einziges Zugeständnis bauten wir ein paar Schiebetüren ein. Schiebetüren waren chic, wurden mit unpraktischem Stoff überzogen und standen meistens offen. Sie wirkten auch rein visuell, ansonsten verbreiteten sich Küchenduft und Bürogeräusche bis in den letzten Winkel der Wohnung.

Türen raus und ein großes Loch in die Wand. So kommt Licht in die Küche, zum Heizen semioptimal.
Foto: Sabine Pollak

Das Türen-lose Wohnen schien unkonventioneller zu sein als jenes, welches wir als Kinder und Jugendliche in den jeweiligen Wohnungen erfahren hatten. Vor allem darum ging es. Ein dekoratives Wohnzimmer brauchten wir nicht, eine abgeschlossene Küche würde Rollenklischees verfestigen (die Frau kocht), und ein Flur, von dem aus lauter Türen in einzelne Zimmer gingen, erschien uns bieder. So schlugen wir nach dem Türen-Entfernen noch ein großes Loch in die Wand zwischen Vorraum und Küche. Architekturbüro und Wohnung gingen ohne Schwelle ineinander über, ständig waren bekannte oder fremde Leute da und das lustige Durcheinander entsprach unserem Lebensstil. Das Leben war gut, Energie war ausreichend vorhanden, und Türen hätten uns nur behindert in allem, was wir mochten.

Offene Grundrisse

Offene Grundrisse sind schön. Sie ermöglichen es, Wohngewohnheiten in Frage zu stellen. Wer sagt, dass wir nicht im Flur oder in der Küche arbeiten wollen, im Wohnzimmer schlafen und im Schlafzimmer essen? Wollen alle Personen überhaupt noch gemeinsam essen? Wer kocht wie und für wie viele Personen? Was heißt denn Wohnen heute überhaupt? Der offene Grundriss wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelt und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg exemplarisch gebaut. Wer offen wohnte, widersetzte sich den Normen und Traditionen der Vorkriegsjahre. Wohnen sollte anders sein als zuvor.

Haus Farnsworth, Mies van der Rohe. Ein Glashaus eignet sich als Wochenendhaus schlecht.
Foto: Sabine Pollak

Die waghalsigsten Experimente dazu waren meist anders konzipierte Einfamilienhäuser, wie etwa das Haus Farnsworth, das Ludwig Mies van der Rohe 1948 – 51 für die Ärztin Edith Farnsworth in Illinois (USA) plante. Es war so offen, dass es praktisch unbewohnbar war. Hinter den raumgroßen Glasscheiben war das Badezimmer der einzig geschlossene Raum, und das auf einem nicht umzäunten, öffentlich zugängigen Grundstück. Die Auftraggeberin des Wochenendhauses war wohlhabend, also war das Experiment verschmerzbar. Le Corbusiers zweigeschossige Wohnungen, die er zeitgleich für die Unité d’Habitation in Frankreich plante (eine große Wohneinheit für 1600 Personen), waren da vermutlich schon die größere Herausforderung. Anstelle eines Elternschlafzimmers gab es eine offene Schlafgalerie, die Küche darunter ging übergangslos in den Wohnraum über und Kinder erhielten 2m breite Schlafnischen, zusammenlegbar über eine Schiebewand.   

Wohnen ist Gewohnheit

Der Begriff "Wohnen" stammt vom mittelhochdeutschen "wonen" ab, was so viel wie "gewohnt sein" bedeutet. Wir wohnen meistens auch so, wie wir es seit jeher gewohnt sind. Wir hängen unsere Mäntel im Flur auf, sitzen abends vor dem Fernseher im Wohnzimmer, schlafen im ehelichen Bett zwischen zwei Nachtkästchen und gehen zum Rauchen auf den Balkon oder in den Hof.

Was wir als normal, gut, unmöglich oder unbequem finden im Wohnen, hat meist mit der eigenen Wohngeschichte zu tun. Man macht es entweder so, wie man es auch als Kind erfahren hat, oder eben ganz anders. Oder man strebt einem Ideal nach, das in Hochglanzmagazinen vermittelt wird. Aber Vorsicht: Hochglanzmagazine mit Walnussholzböden, Wohnlandschaften und freistehenden Küchenblöcken wissen noch nichts von der Energiekrise, also von der Notwendigkeit, bei der Energie im Wohnen zu sparen.

Offene Gesellschaften brauchen offene Grundrisse

Wer gerade kein Nullenergiehaus gebaut hat und in einem Mietwohnungsbau wohnt, in dem ein Heizungsumbau nicht zur Debatte steht, wird in diesem Winter ausgehängte Türen wieder einbauen. Einzelne Räume weniger zu heizen macht nur Sinn, wenn diese verschließbar sind. Ein Raumkontinuum wird da schwierig. Verschiedene Klimazonen in einer Wohnung verlangen einzelne Räume mit Türen. Werden wir also auf ein Wohnen, wie es unsere Eltern in den 1960er Jahren zelebrierten, zurückgeworfen? Ich bin nicht bereit dazu, weder bei mir zu Hause noch in jenen Wohnungen, die ich für Andere plane. Warum soll ich jemandem vorschreiben, dass er oder sie in genau diesem Raum genau das tun sollte? Wer eine offene Gesellschaft will, braucht offene Wohnungen mit offenen, unkonventionellen und experimentellen Grundrissen, das ist meine Meinung.

Zwischen Zwiebel, Höhle und Glashaus

Wir sollten umdenken. Wir sollten das Wohnen nicht als Ansammlung von Zimmern und Gängen sehen, sondern eher zirkulierend von innen nach außen denken, als eine Art Zwiebelprinzip, in Schichten und die Höhle mit dem Glashaus vereinend. In dieser Zwiebelhöhlenglashauswohnung wäre es im Inneren warm, aber auch dunkel. Je weiter nach außen man käme, desto heller würde es, und auch kühler. Dazu wäre ein System aus Vorhängen gut, mit transluzenten Stoffen, die sich in der Sonne aufheizen und Wärme speichern würden. Wir sollten auch kleine, aber hohe Räume einplanen. Im Winter würden wir dort auf Podeste knapp unter der Decke kriechen, im Sommer am kühlen Boden liegen bleiben. Vor den raumhohen Glasscheiben wäre ein dichtes Netz aus Pflanzen und müde Eidechsen würden dort langsam über Blätter gleiten. Abends würden wir uns in unsere aufgeheizten Vorhänge einrollen und in den Höhlen verschwinden, morgens den Kaffee mit den Eidechsen einnehmen und mittags irgendwo dazwischen essen. Ein ewiges hin und her, je nach Tages- und Jahreszeit neu arrangiert, ein sinnliches Wohnkontinuum, selbst im Kleinsten. La Dolce Vita im Energiesparmodus. (Sabine Pollak, 29.9.2022)

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