Lubmin, wo die Pipeline in Deutschland anlandet.

Foto: Reuters / Fabrizio Bensch

Während sich an der spiegelglatten Oberfläche der Ostsee bei Bornholm 100 Meter große Blasen bilden, die von der Katastrophe dutzende Meter weiter unten zeugen, laufen in Europas Staatskanzleien am Dienstag die Leitungen heiß: Wer oder was steckt hinter den Lecks in drei der vier Nord-Stream-Gaspipelines, die wenige Stunden zuvor entdeckt wurden und seither die Angst vor Sabotage an Europas Energieinfrastruktur geschürt haben?

VIDEO: Lecks bei Nord Stream 1 – So sprudelt Gas in die Ostsee
DER STANDARD | AFP | DANISH DEFENCE COMMAND

Die deutsche Bundesregierung, die Nord Stream 2 keine Betriebserlaubnis gegeben hat, schließt einem Medienbericht zufolge einen Anschlag nicht aus. Es könnte sich um einen Anschlag handeln, um Verunsicherung auf den europäischen Gasmärkten zu provozieren, heißt es aus Berlin. Wie das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, unter Berufung auf mehrere, mit dem Sachverhalt vertraute Quellen, berichtet, soll der US-Geheimdienst CIA die deutsche Regierung noch im Juli 2022 vor möglichen Anschlägen auf Gaspipelines in der Ostsee gewarnt haben. Ein deutscher Regierungssprecher wollte dazu am Dienstag keine Stellung beziehen.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ortet indes in der Beschädigung der Leitungen eine "nächste Stufe der Eskalation" im Ukraine-Krieg. Näher ins Detail ging er nicht.

Die Meeresoberfläche bei Bornholm.
Foto: Danish Defence Command/Handout via REUTERS

"Starke Explosionen"

Am Dienstagnachmittag verlieh Schwedens Erdbebenwarte der Spekulation über Sabotage neuen Auftrieb: Schon am Montag, als erstmals ein Leck in der Nord-Stream-2-Leitung entdeckt wurde, habe man "starke unterseeische Explosionen" in der Nähe der Pipelines registriert. Die dänische Armee veröffentlichte am Dienstag ein Foto, das die Blasenbildung an der Oberfläche des betroffenen Meeresgebiets zeigt. Auch die Nato will die Situation untersuchen.

Sowohl in Dänemark als auch in Schweden wurden Krisenstäbe einberufen. Die schwedische Außenministerin Ann Linde und ihr dänischer Kollege Jeppe Kofod wollten noch am Abend über die Lage virtuell konferieren. Auf die Frage, was genau passiert sei, sagte Linde: "Ich möchte nicht darüber spekulieren. Man muss ganz sicher sein, was passiert ist und wie das unsere Sicherheit beeinflusst."

Am Montag war in beiden Erdgaspipelines ein plötzlicher Druckabfall festgestellt worden. Kurz danach wurde ein Leck in der Pipeline Nord Stream 2 entdeckt, das Dänemark dazu veranlasste, die Schifffahrt in einem Umkreis von fünf Seemeilen um die Stelle einzuschränken.

Beide Doppelröhren verlaufen von Russland über die Ostsee nach Deutschland. Nord Stream 1 war 2011 in Betrieb genommen worden. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine und den darauffolgenden Sanktionen des Westens hatte Russland den Gastransport durch Nord Stream 1 zunächst reduziert und vor ein paar Wochen komplett eingestellt. Nord Stream 2 war vor einem Jahr fertiggestellt worden, hatte aber nie von Deutschland eine Betriebserlaubnis erhalten.

Keine Auswirkungen auf Versorgungssicherheit

Trotz der Vorfälle innerhalb kurzer Zeit sahen das deutsche Wirtschaftsministerium sowie die Netzagentur zumindest am Montagabend keine Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit in Deutschland: "Es fließt seit dem russischen Stopp der Lieferungen Anfang September kein Gas mehr durch Nord Stream 1. Die Speicherstände steigen dennoch weiter kontinuierlich an. Sie liegen aktuell bei rund 91 Prozent."

Auch Umweltgefahren wegen des Lecks bei Bornholm drohen aus Sicht der Deutschen Umwelthilfe (DUH) zumindest kurzfristig nicht. Der Organisation zufolge entspricht Erdgas dem Treibhausgas Methan, das sich teilweise im Wasser löse und nicht giftig sei. Selbst im Fall einer Explosion unter Wasser gebe es nur lokale Effekte, so ein Sprecher. Schädlich ist Methan vor allem für das Klima.

Leerlauf befürchtet

Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek befürchtet indes, dass die mit 177 Millionen Kubikmeter Gas gefüllte Pipeline in den kommenden Tagen leerlaufen könnte. Während die Nord-Stream-2-Pipeline nach ihrer Fertigstellung aufgrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine nie in Betrieb genommen wurde, sondern nur einmalig mit Gas befüllt wurde, floss durch die Nord-Stream-1-Pipeline bis Anfang September Gas nach Deutschland. Nachdem der russische Staatskonzern Gazprom seine Lieferungen durch die Röhre bereits zuvor reduziert hatte, stoppte er diese mit dem Verweis auf einen Ölaustritt in der Kompressorstation Portowaja komplett.

Schon kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten die USA Sanktionen gegen die Nord Stream 2 AG verhängt und alle Geschäfte mit dem Unternehmen mit Sitz in der Schweiz unmöglich gemacht. Erst kürzlich konnte ein drohender Konkurs erneut abgewendet werden.

Ukraine sieht "von Russland geplanten Terrorakt"

Die Ukraine macht Russland für die Lecks an den beiden Nord-Stream-Pipelines verantwortlich. "Das ist nichts anderes als ein von Russland geplanter Terrorakt und ein Aggressionsakt gegen die EU", schrieb der externe Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, beim Kurznachrichtendienst Twitter. Moskau wolle damit die wirtschaftliche Situation in Europa destabilisieren und "Panik vor dem Winter" erzeugen.

Die beste "Investition in die Sicherheit" seien nun Panzer für die Ukraine, forderte Podoljak. "Besonders deutsche ...", betonte der 50-Jährige. Die Ukraine war bis vor wenigen Jahren noch das Haupttransitland für russisches Erdgas in die Europäische Union.

Auch Russland bringt Sabotage ins Spiel

Auch das russische Präsidialamt bringt Sabotage als einen möglichen Grund für die an den Gaspipelines festgestellten Schäden ins Spiel. Dies könne nicht ausgeschlossen werden, ebenso wie keine andere Option, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag in einer Telefonkonferenz mit Journalisten. Die Lage sei sehr besorgniserregend und erfordere eine sofortige Untersuchung, da sie ein Problem für die Energiesicherheit des gesamten Kontinents darstelle.

Der Preis für europäisches Erdgas zog am Dienstag an. Der Terminkontrakt TTF für niederländisches Erdgas stieg bis auf rund 194 Euro je Megawattstunde an. Zuletzt lag er bei rund 188 Euro. (flon, red, Reuters, APA, 27.9.2022)