Tatsächlich zählt dann nur dieser Moment. Egal was und wie es vorher war. Egal wie es weitergeht. Egal wer schon vor einem da war – und wer noch kommen wird: Das, worauf es ankommt, ist dieser eine Augenblick. Der Moment, in dem man über die Ziellinie kommt – fliegt. Noch nicht begreift, aber spürt: "Ich habe es geschafft. Bin einen Marathon gelaufen. Zum allerersten Mal."

Auch wenn an diesem Tag, an diesem Ort und in diesem Zeitfenster 45.000 andere exakt das Gleiche tun, wenn einer, Eliud, dafür mehr als zwei Stunden weniger gebraucht hat: Egal. Was zählt, ist dieser Moment. Der Moment, in dem man – so wie Eliud zwei Stunden zuvor – den einzigen Gegner besiegt hat, auf den es ankommt: sich selbst.

Foto: Tom Rottenberg

Bis das im Kopf angekommen ist, dauert es aber. Damit man es selbst wirklich glaubt, hilft es, die Dinge auszusprechen. Laut. Irgendwer muss das hören. Etwa die Ärztin, die am Sonntag an der Ziellinie des Berlin-Marathons steht und denen, die da nach 42,195 Kilometern seit über vier Stunden hier ankommen, entgegenschaut. Die nach Taumelnden, nach Entkräfteten, nach den Vorboten des dem Verbrennen der letzten Reserven folgenden Zusammenbruchs Ausschau hält: "Ich bin gerade einen Marathon gelaufen", ruft ihr Elisabeth entgegen. Die Ärztin strahlt sie an: "Ja, das bist du! Das hast du richtig toll gemacht."

Da, jetzt, ist das Rennen tatsächlich vorbei. Jetzt kommen Tränen. Gute Tränen.

Foto: Tom Rottenberg

Die namenlose Ärztin hat alles richtig gemacht. Denn natürlich hätte sie auch lachend in die Umgebung zeigen können. Und trocken "So wie alle hier" sagen können. Vollkommen zu Recht. Schließlich waren wir im Mittelfeld des Berlin-Marathons ins Ziel gekommen: 45.527 Läuferinnen und Läufer waren angemeldet gewesen. Einer, Eliud Kipchoge (im Bild auf dem Bildschirm beim Start), hatte zweieinhalb Stunden vor uns seinen eigenen Weltrekord gebrochen. Mehr als 20.000 waren schneller, teils viel schneller als wir.

Und Elisabeth hatte auf diesen ihren ersten 42 Kilometern mehr "Runner's Hell" als "Runner's High" abbekommen.

Trotzdem: "Ich bin gerade einen Marathon gelaufen!" – "Ja, das bist du! Das hast du ganz toll gemacht." Das bleibt.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich könnten wir analysieren, was da wann, wo, wie, warum schiefging. Werden wir auch. Wobei das gar nicht so schwierig ist: Marathon läuft man im Kopf.

Klar, Beine und Körper kommen da auch ans Limit. Aber darauf kann man (und selbstverständlich auch frau) sich vorbereiten. (Immer vorausgesetzt, dass man pumperlgesund ist.) Mit langen Läufen. Mit schnellen Läufen. Mit dem individuell richtigen, systematischen Zusammenführen von Dauer und Tempo: Das ist keine Geheimwissenschaft, sondern Maßarbeit. Aus den Trainingsergebnissen lässt sich dann ein "Fahrplan" für den Bewerb basteln.

Wenn nix Blödes passiert, müsste dann im Rennen alles funktionieren. Nur bleibt da immer noch eine Unbekannte: der Kopf.

Immer – aber besonders beim ersten Mal.

Foto: Tom Rottenberg

Der Reihe nach. Schließlich ist ein Marathon nur in Legenden ein Stunt, der Freitagnacht als "bsoffene Gschicht" angedacht und am Sonntag umgesetzt wird: Jeder kennt wen, der jemanden kennt, der …

Genauerer Überprüfung hält diese Fabel so gut wie nie stand. Und wenn doch, haben die Akteure (selten sind es Akteurinnen) meist eine langjährige, intensive Sportgeschichte. Oder -vergangenheit: Der Körper vergisst nicht.

Aber im Normalfall gehen dem ersten Marathon ein-, eineinhalb Jahre Vorbereitung voraus.

Foto: Tom Rottenberg

Abgesehen davon ist es bei den großen und attraktiven Läufen gar nicht möglich, am Vorabend einen Startplatz zu kriegen: Die 45.527 in Berlin Angemeldeten waren nur ein Bruchteil derer, die gerne gelaufen wären. Startplätze für Läufe wie Berlin gibt es – national streng kontingentiert – für Normalos fast nur über spezielle Reisebüros. Oder per Lotterie. Wer gewinnt, darf seinen oder ihren Startplatz kaufen.

Wer dann etwa noch die "Big Six" – also die "Klassikerserie" Berlin, London, Tokyo, Boston, Chicago und New York – "finishen" will, braucht Geduld (auf manche Startplätze wartet man mehrere Jahre) und Geld. Und Glück: Um Tokios rund 17.000 Lotteriestartplätze kämpfen jährlich bis zu 450.000 Bewerberinnen und Bewerber.

Foto: Tom Rottenberg

Aber so weit ist eine "Rookie", also jemand, der oder die den ersten Marathon laufen will, lange nicht. Auch Elisabeths Reise begann anderswo – und ganz normal. Als Jugendliche im regionalen Sportverein. Als junge Erwachsene dann der Neustart auf Hauptallee und Donauinsel. Kleine und mittlere Bewerbe. Erste Trainingspläne. Dann Läufe, mit dem Blick schon auf nebulos "Größeres" gerichtet.

Und dann die Entscheidung, ins kalte Wasser zu springen. Weil 42,2 Kilometer aber immer und überall 42,2 Kilometer sind, die Entscheidung, das gleich "ordentlich" zu machen: Berlin also.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich ist Berlin nicht nur eine Legende, sondern auch ein dickes Brett. Logistisch, zeitlich und auch finanziell. Aber andererseits hat man hier auch die Gewissheit, dass dort, wo "Marathon" draufsteht, auch nur Marathon drin ist.

Während anderswo, auch in Wien, mit den Zahlen, über mehrere Tage verteilten Nebenbewerben und der Nachsilbe "-veranstaltung" so lange jongliert wird, bis die fünfstellige Starterinnenzahl mit einer Vier beginnt, sind 45.527 Angemeldete hier tatsächlich 45.527 Marathonstarter. Andere Bewerbe – etwa für Kinder, Handbikes und Skates – gibt es, sie werden aber extra ausgewiesen.

Foto: Tom Rottenberg

Und wo "Marathonies" die Hauptrolle spielen, dreht sich auch alles nur um sie. Bei 45.000 Personen beginnt das mit vermeintlichen Kleinigkeiten – etwa einer Startnummernausgabe, bei der man nicht nach Nummern sortiert an Schaltern ansteht, sondern wo die Nummern beim Schalter erst aufgedruckt werden: Kostet mehr, reduziert aber die bei solchen Menschenmassen unvermeidlichen Steh- und Wartezeiten signifikant.

Und wer nicht genervt sofort wieder weg will, sondern sich gut und freundlich behandelt fühlt, bleibt (inklusive Begleittross) gern noch auf der "Marathon-Expo" und gibt Geld aus: In Boston etwa besuchen über 300.000 Nasen die Messe – und lassen pro Kopf rund 300 Dollar da.

(Im Bild: Mehmet mit seinem 25-Kilo-Holzscheit. Er lief damit schon in Paris, Amsterdam und Frankfurt – und mehrfach in Berlin. Immer den Marathon. )

Foto: Tom Rottenberg

Aber bleiben wir beim Laufen selbst: Marathon läuft man anders als Halbmarathon oder Staffel. Das Zusammenmischen der Bewerbe garantiert zwar tolle Bilder von vollen Strecken, ist dem gedeihlichen Laufen aber abträglich. Höflich gesagt.

Erst recht, wenn jeder startet, wo und wie er (oder sie will): Natürlich kann man auch in Berlin bei den Startblöcken mogeln, aber es ist nicht per se "part of the game". Wenn Blöcke mit vernünftigen Abständen zueinander auf die Strecke gelassen werden, vermeidet man Stau und Gedränge weitestgehend.

Foto: Tom Rottenberg

Erst recht, wenn man zu einem Kunstgriff greift, den Veranstalter, die "Normalos" nur als zahlende Statisten für Massenbilder schätzen, scheuen wie der Teufel das Weihwasser: Unter dem Startbogen ist die Berliner Strecke ein Flaschenhals.

Was das bringt? Statt einer breiten Lawine ergießt sich das Feld nur über zwei Drittel der möglichen Straßenbreite auf die Strecke. Wer unbedingt Gas geben will, hat also auch am Anfang Platz, denn nach ein paar Kilometern zieht sich das Feld ohnehin auseinander und ordnet sich selbst.

Foto: Tom Rottenberg

Klar: Bei 45.000 Läuferinnen und Läufern ist dann immer und überall viel los. Aber wenn dann auch an den Laben beidseitig der Strecke immer ausreichend Platz ist, genügend Volunteers und Streckenposten dafür sorgen, dass auch im dichtesten Pulk genug Getränke griffbereit sind (und die leeren Becher so rasch wie möglich von der Strecker verschwinden), gibt das gerade denen, die auch anderes schon erlebt haben, Ruhe und Sicherheit.

Und Gelassenheit gibt Kraft: Wer weiß, was (nicht) kommt, kann sich aufs Laufen konzentrieren.

Foto: Tom Rottenberg

Womit wir wieder bei der "Kopfsache" wären. Bei dem, was man weiß – unter anderem, wenn man es x-mal erlebt hat. Meine Marathons habe ich nicht nur in den Beinen – und dass Elisabeth längst die schnellere und stärkere Läuferin ist, weiß ich, beweist schon ein kurzer, oberflächlicher Blick in unsere Trainingsaufzeichnungen.

Nur triggert das M-Wort eben auch andere Dinge: Den Umgang mit der fast physisch spürbaren Adrenalinwolke einer Stadt am Vorabend eines Marathons, auf dem Weg zum Start, im Startblock und dann – endlich – beim Loslaufen, den kann man nicht trainieren: Da muss man durch.

Foto: Tom Rottenberg

Das Adrenalin, der Trubel beim Start, die Aufregung – das pusht. Das ist eine Kraft – auch, aber nicht nur physisch: Die ersten 17 Kilometer liefen exakt nach Plan.

Rund, sauber – einen Tick schneller als (bewusst konservativ) geplant: Dass ich bis zur Halbmarathonmarke mehr bremsen als ziehen würde, war mir klar gewesen. Danach, hatte ich mir ausgerechnet, würden Elisabeth und ihre Mutter das Tempo forcieren – weil sie das beide können.

Ich nicht. Aber damit kann ich sehr gut leben.

Foto: Tom Rottenberg

Doch Marathon läuft man im Kopf. Adrenalin und Euphorie verbrennen, verpuffen oder ver"sonstwassen" sich mit der Zeit. Und plötzlich sind dann die "Mühen der Ebene" da.

Gepaart mit der Ehrfurcht vor dem Mythos und ein oder zwei Kleinstproblemchen, die bei Trainingsläufen über 32 oder 35 Kilometer immer locker weggesteckt wurden, macht es "Bumm!". Und wenn der Kopf sagt "Ich kann das nicht", wird der Weg ins Ziel lang. Unendlich lang. Unschaffbar lang. Egal was die erfahrenen Begleitponys sagen. Plötzlich gilt nur noch: "Ich kann das nicht!"

Foto: Tom Rottenberg

Der sogenannte "Mann mit dem Hammer" ist ein fieser Hund. Auch weil er viele Tricks auf Lager hat: Klar hat man von ihm gehört. Weiß, dass er ein Blender ist. Aber das jetzt, das hier, das ist real: die Schmerzen. Die Schwäche. Die Mutlosigkeit. Nein, das alles bildet man sich jetzt nicht ein: "Ich kann das nicht!"

Und außerdem: "Ich will das nicht!" Warum tut man sich das an?

Respektive: "Warum tut ihr mir das an?"

Foto: Tom Rottenberg

Links und rechts wird gegangen. Kämpfen Menschen mit Krämpfen. Liegen auf Pritschen am Straßenrand. Bleiben stehen – dort übergibt sich einer.

An der Ecke ist der Abgang zur S-Bahn: Es wäre so einfach. So bequem. So rasch könnte es vorbei, zu Ende sein. Aber zwischen dem U-Bahn-Abgang und der Laufstrecke stehen Menschen. Manchmal nur ein paar, manchmal viele, richtig viele. Aber nie und nirgendwo ist einfach gar niemand.

Foto: Tom Rottenberg

Obwohl das Rennen schon über vier Stunden dauert, sind sie da. Mit Pauken und Trompeten. Oder sie entziffern die groß auf die Startnummer gedruckten Namen – und schreien, obwohl sie schon heiser sind: "Elisabeth, du schaffst das!"

Der Mann mit dem Hammer duckt sich. Er ist feige. Dass ihm so viele Gegnerinnen und Gegner hier in die Parade fahren würden, hat er nicht geglaubt. Aber kaum wird es leiser, ist er wieder da.

Foto: Tom Rottenberg

Doch dann, nach einer Kurve, wie aus dem Nichts: das Brandenburger Tor. Weit weg zuerst – aber an der Strecke stehen die Leute auch jetzt in mehreren Reihen dichtgedrängt. Jubeln, Trommeln und Klatschen bilden eine Welle – und die hebt, trägt und schiebt. Alle. Jeden und jede. Und spült die Männer mit den Hämmern weg – tausende. So, als wären sie nie dagewesen.

Augen beginnen zu strahlen. Mundwinkel heben sich, ziehen Knie, Hüften und Schultern wieder nach oben.

Foto: Tom Rottenberg

Nach dem Brandenburger Tor drehe ich mich kurz um: Da ist keine Spur mehr von Anstrengung oder Elend. Von der Verzweiflung und den Schmerzen, die während der letzten 20 Kilometer aus Elisabeths Gesicht und Augen, ihrer Haltung und jedem Schritt sprachen, ist nichts mehr zu sehen. Dass diese junge Frau je Zweifel hatte, die 42 Kilometer zu schaffen? Undenkbar.

Dass wir – kurz nur, aber eben doch – an einem bestimmten Punkt knapp davor waren, sie aus dem Rennen zu nehmen? Das hätte sie sich, das hätte sie uns nie verziehen.

Foto: Tom Rottenberg

Ziellinie. Der Moment, in dem alles, was vorher war, nicht mehr zählt. Der Moment, ab dem die Frage "Kann ich das?" obsolet ist. Weil man die Antwort zuerst geträumt, dann gewollt und jetzt gegeben hat. Und man – und selbstverständlich auch frau – weiß, dass gerade nicht nur 42 Kilometer besiegt wurden, sondern 1.000 Kobolde, Dämonen und andere Einflüsterer, die seit jeher – und immer noch ganz besonders Mädchen – nur einen Satz predigen: "Du kannst das nicht."

Doch dann war da das Ziel. Dahinter die namenlose Ärztin.

"Ich bin gerade einen Marathon gelaufen", rief ihr Elisabeth entgegen. Die Ärztin strahlte sie an: "Ja, das bist du! Das hast du richtig toll gemacht."

Ich weiß nicht, ob sie das bewusst so sagte. Aber sie verwandelte damit das kleine, kaum hörbare Fragezeichen am Ende von Elisabeths erstem Satz nach ihrem ersten Marathon in ein Rufzeichen.

Und zwar für immer. (Tom Rottenberg, 27.9.2022)

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