Ein Gastkommentar über die Proteste im Iran und die Frage, wie das Regime reagiert.

Um die aktuelle Situation im Iran zu beschreiben, muss ich mit einem Vergleich beginnen. Die iranische Gesellschaft ist wie ein Mensch mit vielen offenen Wunden, die seit der Revolution von 1979 bestehen und weiterwachsen. Anstatt nach einer Heilung zu suchen, legen der Staat und seine Verantwortlichen (Männer) nur dicke Pflaster auf die Wunden und ignorieren sie systematisch, bis die nächste Wunde wieder zu bluten beginnt.

Der Tod von Mahsa Amini sorgte weltweit für Empörung – und Proteste: auch, wie hier im Bild, in New York.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Eine dieser nicht geheilten Wunden kam vor zwei Wochen zum Vorschein. Am 13. September wurde die 22-jährige sunnitische Kurdin Mahsa (Jina) Amini von der iranischen "Sittenpolizei" wegen ihres "unangemessenen" Hidschabs (Kopfbedeckung) verhaftet. Nach offizieller Darstellung des Staates wurde sie auf der Polizeiwache nach einem "Herzinfarkt" bewusstlos. Nach zwei Tagen im Koma starb sie. Das hat bei vielen Menschen im Iran alte Wunden aufgebrochen und führte zu Massendemonstrationen in 80 iranischen Städten. Die Sicherheitsapparate schlugen die Demonstrationen brutal nieder, töteten mindestens 70 Menschen, darunter mindestens vier Minderjährige, und verhafteten viele Bürgerinnen und Bürger. Des Weiteren hat die Regierung den Zugang zum Internet massiv eingeschränkt.

"Die Unterdrückung der Frauen sowie aller Völkergruppen wie Kurden und Belutschen intensivierte sich seit den ersten Tagen der Revolution."

Der bedauerliche Tod von Mahsa erinnert uns an eine doppelte Diskriminierung, die viele Menschen im Iran erleben: Iranische Frauen können in der Islamischen Republik niemals die höchste politisch-administrative Ebene wie die Präsidentschaft erreichen. Nach Artikel 115 der Verfassung der Islamischen Republik dürfen nur Männer am Wettbewerb teilnehmen. Und selbst wenn Mahsa ein Mann gewesen wäre, hätte sie keine Chance gehabt, Präsident zu werden, da derselbe Artikel 115 nur Schiiten erlaubt, sich als Kandidaten zu registrieren. Die Sunniten im Iran weisen darauf hin, dass nicht einmal im Kabinett des Präsidenten ein einziger sunnitischer Minister zu finden ist. Eine Kritik, die seit über 40 Jahren geäußert und nie gehört wird.

VIDEO: Die Sittenpolizei im Iran kann jederzeit Frauen festhalten und "belehren". Wie es dazu kam und warum die Menschen jetzt ihr Leben riskieren, um sich dagegen zu wehren

DER STANDARD

Die Unterdrückung der Frauen sowie aller Völkergruppen wie Kurden und Belutschen intensivierte sich seit den ersten Tagen der Revolution. Das Regime ignorierte diese an den Rand gedrängten Gruppen als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Darüber hinaus nutzte das Regime die unbeantworteten Forderungen dieser Gruppen gegen sie. Wann immer es einen Aufstand gab, antwortete der Staat, dass dies der "Feind" sei, der sich einmische und das Land infiltriere, um die "ideale Harmonie" unter dem islamischen Regime zu stören.

Anstatt auf die Stimmen der marginalisierten Menschen im Iran und ihre soziopolitischen Anliegen zu hören, unterdrückte das Regime die kritischen Stimmen mit allen Mitteln. Ein dramatischer Fehler ist, dass der Staat seit Jahrzehnten bei jeder Großdemonstration eine Gegendemonstration organisiert. Mit anderen Worten: Der Staat selbst spaltet sein Volk mit Absicht und polarisiert die Gesellschaft. Während in der Realität in vielen Familien und Gemeinschaften im Iran Frauen mit und ohne Hidschab konfliktfrei zusammenleben, mobilisiert der Staat ultrareligiöse Frauen, um gegen Frauen vorzugehen, deren Hidschab nicht "islamisch genug" ist! Auf diese Weise vertritt das Regime innenpolitisch eindeutig seinen ideologischen Aspekt: Es gibt Menschen, die zu uns gehören, und solche, die nicht zu uns gehören, und dieses "uns" wird vom Regime und seinen politischen Eliten immer wieder neu definiert.

Starke Zweifel

Demonstrationen in der Islamischen Republik sind nicht neu. Seit Anfang der 1990er-Jahre gab es im ganzen Land zahlreiche Demonstrationen und Unruhen in kleinem und großem Maßstab. In der Tat kann sich jeder aus dem Iran, welche Generation auch immer, an mindestens einen großen öffentlichen Protest erinnern, an dem er oder sie teilgenommen hat. Die Studentenproteste vom Juli 1999, die von den Studierenden in Teheran ausgingen, entzündeten sich, kurz nachdem die Regierung eine reformorientierte Zeitung verboten hatte. Die jungen Studentinnen und Studenten forderten mehr gesellschaftspolitische Freiheit im öffentlichen Raum. Ein Jahrzehnt später, nach den Präsidentschaftswahlen 2009, die in Massendemonstrationen und Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Opposition über die Wahlergebnisse mündeten, forderten erneut Millionen Leute im Iran das Regime heraus. Die Menschen in dem sogenannten Green Movement kritisierten das Wahlergebnis und zeigten ihre Zweifel an der staatlich gelenkten "Demokratie", indem sie skandierten: "Wo ist meine Stimme?" Von dieser Demonstration blieb der Tod einer 26-jährigen Frau, Neda Aqa-Soltan, die von Sicherheitskräften in Teheran umgebracht wurde, besonders stark in Erinnerung.

Nach 2018 brachte die Kombination aus äußerem Druck durch die USA und innerer Entmutigung den Staat in eine neue Situation: Monat für Monat sah sich das Land Streiks und Protesten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gegenüber. Fabrikarbeiter, Lehrkräfte, Studentinnen und Studenten, Rentner und auch ethnische Gruppen in verschiedenen Provinzen demonstrierten täglich. Die größten Proteste mit den meisten Todesopfern ereigneten sich nach einer 50-prozentigen Erhöhung der Benzinpreise im November 2019.

Beschädigtes öffentliches Vertrauen

Im August 2021 wurden die permanente soziopolitische Instabilität, das beschädigte öffentliche Vertrauen, die frustrierenden wirtschaftlichen Umstände und das halbgare Atomabkommen in Verbindung mit der ökologischen und umweltpolitischen Katastrophe an Ebrahim Raisi übergeben. Er wurde Präsident und brach den Rekord der niedrigsten Wahlbeteiligung in der iranischen Geschichte (rund 49 Prozent). Diese Wahl begann mit einer kreativen Art der Demonstration: Etwa 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler protestierten, indem sie ungültig oder "Superman" wählten, um sich über die vom Regime organisierte Wahl lustig zu machen. Nach seiner Wahl dachte Raisi, dass er durch seine Reisen in die verschiedenen Provinzen zeigen kann, dass er sich um das Volk kümmert, um sich damit beliebt und populär zu geben. Er und seine Berater dachten auch einfach, sie könnten die sozialen Probleme untergraben, indem sie sich nur auf die wirtschaftliche Verbesserung konzentrieren.

Raisi hat außerdem im Namen der gesamten Regierung mehrmals erwähnt, dass "die Situation rund um die Atomverhandlungen vom täglichen Leben der Menschen getrennt werden sollte". Mit dieser Aussage wollte Raisi den "maximalen Widerstand" des Regimes gegenüber den USA und Europa demonstrieren. Auf der anderen Seite signalisiert er der iranischen Bevölkerung mit dieser Aussage, dass sie darauf keine Hoffnung setzen sollte. Anders ausgedrückt: Das Regime verlangt von seiner eigenen Bevölkerung, dass sie ihre Hoffnung aufgibt, aber unter den wirtschaftlichen Entbehrungen ihre Widerstandskraft bewahrt. Auf diese Weise können die iranischen Nuklearverhandler und ihre Medienberater wie Mohammad Marandi der Welt mitteilen, dass der Iran (auf Kosten der iranischen Bevölkerung) in einer starken Position ist und dass "Europa sich vor dem Winter sorgen soll". Darüber hinaus werden alle idealistischen Versuche von Teherans nach Osten gerichteter Außenpolitik von der Bevölkerung mit null Interesse betrachtet, und insbesondere ist eine enge Verbindung und Zusammenarbeit mit Russland nichts, was die Jugend für eine bessere Zukunft motivieren würde.

"Versteckte Hände des Feindes"

Die Islamische Republik hat immer die "versteckten Hände des Feindes" beschuldigt, den Frieden in der Gesellschaft zu stören. Doch im Gegensatz dazu ist das Regime selbst diese versteckte Hand, die ihre Bürgerinnen und Bürger immer wieder systematisch ausgrenzt, diskriminiert und vernichtet, egal welchen ethnischen, sozialen oder politischen Hintergrund sie haben.

Diese neue Welle von Demonstrationen im Iran ist einzigartig: Die Menschen auf der Straße sind wütender, die Slogans sind radikaler und fordern einen systematischen Wandel. Im Zentrum der Bewegung stehen Frauen, die ihre Kopftücher auf der Straße tanzend verbrennen. Und es überrascht nicht, dass die Religion in den Erzählungen und Diskursen der Demonstranten überhaupt nicht dargestellt wird. Der Hauptslogan der jüngsten Proteste ist klar: "Frau, Leben, Freiheit". Warum wollen Politiker im Iran diesen Slogan nicht tolerieren? Die Antwort darauf liegt in der Natur aller faschistischen Regime in der Geschichte. (N. N.*, 29.9.2022)