Beim Gespräch im wohlklimatisierten Ringstraßenhotel in Wien scheint die Energiekrise weit weg. Tatsächlich ist sie nah und lehrt uns Energiesparen auf die harte Tour.

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Die Energiekrise mache Klimaschutz zu einem Drahtseilakt, sagt der Chef des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Der Wechsel weg vom Gas hin zu Öl und Kohle dürfe nicht zum Dauerzustand werden.

STANDARD: Klimaschutz in Zeiten von Energiekrise, Ukraine-Krieg und Umrüstung von Gas auf Kohle oder Öl. Wird das noch etwas in diesem Leben?

Wambach: Was sich schon geändert hat, und das hilft dem Klimaschutz, ist das Bewusstsein dafür, in Energiefragen nicht in Abhängigkeiten zu geraten. Wir sehen eine Beschleunigung der Maßnahmen zum Ausbau von Windkraft und der Stromnetze. Dauerten Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland bisher sechs Jahre, strebt man jetzt drei Jahre an, zwei wären noch besser. Was die aktuell schlimmen Entwicklungen und hohen Energiepreise auch zeigen: Wir lernen auf die harte Tour, damit umzugehen. Auch die Dekarbonisierung führt zu höheren Preisen für fossile Energie – wenn auch längst nicht zu so hohen Preisen, wie wir es heute erleben.

"Wir müssen und werden diesen Winter 20 bis 25 Prozent Gas im Vergleich zu den Vorjahren einsparen, einfach deshalb, weil das Gas nicht da ist", sagt Achim Wambach.
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STANDARD: Energiepreise auf Rekordhöhe können den Green Deal der EU gefährden. Das "grüne Verkehrsmittel" Bahn kommt an die Grenzen seiner Rentabilität, weil die Strompreise so hoch sind. Wäre es sinnvoll, das der Merit Order zugrundeliegende Grenzkostenmodell durch das Durchschnittspreismodell zu ersetzen?

Wambach: Das Durchschnittspreismodell mit Zu- und Abschlägen würde nichts ändern. Denn die Merit Order ist ja eigentlich nur ein Modell zur Ermittlung der Angebotskurve. Würde man sagen, jeder bekommt Strom nicht zum höchsten Preis, sondern nur zu dem Preis, den er bietet, dann würden alle höher bieten. Denn Anbieter versuchen in einem solchen Markt, mit ihrem Angebot den "Marktpreis" zu treffen. Man kann herumpfuschen, aber man kann die Marktlogik nicht verändern, dass der Letzte, der den Zuschlag bekommt, preisbestimmend ist. Wir sind in einer sehr ernsten Lage. Die nächsten zwei Jahre werden nicht einfach werden. Das ist keine Konsequenz der Klimapolitik, aber es hat Auswirkungen auf die Klimapolitik. Wir müssen darauf achten, dass jetzt in der Krise nicht langfristige Strukturen aufgebaut werden, die später die Klimapolitik behindern.

STANDARD: Was meinen Sie konkret? Können Sie Beispiele nennen?

Wambach: Die Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus ist ein positiver Effekt, auch die erhöhten Anstrengungen zur Energieeffizienz, Stichwort Strom- und Gassparen. Allerdings müssen wir darauf achten, dass die Effekte der Umstellungen auf Kohle und Öl nur Übergangseffekte bleiben.

Der Wirtschaftsforscher Achim Wambach vom ZEW in Mannheim warnt: Die negativen Effekte der Umstellung von Gas auf Kohle oder Öl dürfen nur Übergangseffekte bleiben.
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STANDARD: Überrascht es Sie, dass die Umstellung von Gas auf Strom oder Kohle oder Öl von relativ vielen Unternehmen angegangen wird, wenn auch mit erhöhtem Aufwand? Gas ist offenbar doch leichter ersetzbar.

Wambach: Es sind zwei Effekte: Das Umstellen auf Öl oder Strom zeigt: Unter (Preis-)Druck geht sehr viel in der Wirtschaft. Wir sehen aber auch, dass Unternehmen ihre Produktion herunterfahren. Ammoniak zum Beispiel wurde von Europa exportiert, weil wir günstiges Gas hatten. Jetzt wird er importiert. Das ist für das Klima nicht unbedingt gut, weil wir die Produktion und damit die Emissionen ins Ausland verlagern. Dieses mögliche Carbon Leakage ist ein negativer Effekt der hohen Preise, den es so weit wie möglich zu vermeiden gilt.

STANDARD: Aber wir können nicht ewig subventionieren, Preise stützen, damit die Industrie wettbewerbsfähig bleibt und nicht abwandert, oder?

Wambach: Stimmt, das geht nicht. Deshalb ist es wichtig, dass in der EU ein Grenzausgleichsmechanismus geschaffen wird. Noch besser wäre allerdings die Bildung eines Klimaklubs, also internationaler Abkommen gemeinsam mit USA und China. Europa ist zwar einer der drei großen Wirtschaftsräume der Welt, aber für Klimapolitik zu klein.

STANDARD: Amerika und Europa zusammen sind auch zu klein?

Wambach: Wenn man sich die Emissionszahlen anschaut: Das Emissionswachstum geht vom asiatischen Raum aus. Die Welt in zwei Teile zu teilen wäre nicht hilfreich ...

STANDARD: ... aber zusammen könnte China sie nicht ignorieren, oder?

Wambach: Das schon. Es kann auch gut sein, dass ein Klimaklub EU-USA der erste Schritt sein wird. Mit den chinesischen Kollegen diskutieren wir derzeit fast ausschließlich über Klimaschutz. Da gibt es viele gemeinsame Interessen.

Das Wachstum der CO2-Emissionen geht eindeutig vom asiatischen Raum aus, sagt ZEW-Präsident Achim Wambach.
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STANDARD: Aber dann müsste in China auch was weitergehen. Seit der Corona-Krise passiert nicht mehr viel, Russland pfeift sowieso drauf. Dagegen ist die EU, was die CO2-Emissionen betrifft, geradezu ein Zwerg.

Wambach: Das Pro-Kopf-Einkommen in China liegt bei 25 Prozent des OECD-Durchschnitts. Es ist deshalb gut nachvollziehbar, dass sie sagen, lasst uns erst einmal wachsen. In Indien ist es noch viel dramatischer. Klimaschutz muss deshalb mit einer Wachstumsperspektive verbunden sein. Der Weltklimarat IPPC geht übrigens in seinem Bericht davon aus, dass Weltwirtschaftswachstum und Klimaschutz gemeinsam möglich sind. Aber das bedingt eine vernünftige, effiziente Klimapolitik. Wenn wir eine Klimapolitik auf Kosten der Industrie und der Arbeitsplätze machen, werden China und Indien sagen, das ist für uns nicht kopierfähig, das werden wir nicht nachmachen. Gerade im Forschungsbereich kann Europa aber seinen Beitrag leisten. Bei Wasserstoff zum Beispiel sind noch viele Fragen offen, da ist viel Forschung und Entwicklung notwendig – von der Herstellung auf industrieller Ebene bis hin zu Fragen des sicheren Transports. Und es gab schon Erfolge: Bei Photovoltaik und Windkraftanlagen sieht man sehr schön, wie die Preise gepurzelt sind – und dass in manchen Regionen heute Solaranlagen günstiger sein können als fossile Kraftwerke.

STANDARD: Dieses Geschäft mit Photovoltaik macht jetzt China. War dieser Technologieexport so klug?

Wambach: Was man kritisieren kann, ist, dass wir die Förderungen bei der Produktion ansetzen. Wir fördern den Bau von Solarkraftwerken. Was wir beitragen können, ist aber die Innovation. Wir sollten also mehr Forschung und Entwicklung fördern, etwa Materialforschung – und weniger den Bau der Anlagen.

STANDARD: Die Glasindustrie ist nicht Europas größte und wichtigste Industrie, aber sie rentiert sich aufgrund des hohen Gaspreises wohl bald nicht mehr. Wie kann man lebenswichtige Produktion erhalten?

Wambach: Aktuell ist es nicht einfach. Aber bezogen auf die Klimapolitik gibt es eine ganze Reihe von Instrumenten, Gratiszertifikate für die Industrie zum Beispiel. Wir werden aber auch eine stärkere strategische Außenhandelspolitik machen müssen. Unternehmen machen bereits Stresstests, etwa: Was bedeutet es, wenn die Amerikaner China sanktionieren oder Europa mit China in einen geopolitischen Konflikt geraten sollte? Welche Abhängigkeiten bestehen in der Rohstoffbeschaffung? Das ist eine Erkenntnis aus der Energieabhängigkeit von Russland. Ein solcher Stresstest sollte auch auf nationaler und europäischer Ebene gemacht werden. Brauchen wir neue Quellen für Rohstoffe oder Vormaterialien? Wo sind wir von wem abhängig?

"Wer nach Preisnachlässen ruft, sollte wissen, was er dafür bekommt. Wenn diese Nachlässe zu einer erhöhten Nachfrage führen, wird eine Rationierung von Gas wahrscheinlicher", warnt Achim Wambach.
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STANDARD: Die Unternehmen reagieren bereits, prüfen eine Expansion in die USA, weil Energie dort billiger und die Wettbewerbsfähigkeit besser ist. Müssen wir das als das notwendige Übel in Kauf nehmen?

Wambach: Wir müssen und werden diesen Winter 20 bis 25 Prozent Gas im Vergleich zu den Vorjahren einsparen, einfach deshalb, weil das Gas nicht da ist. Die Industrie wird ihren Beitrag dazu leisten müssen. Und wenn wir es nicht über marktwirtschaftliche Methoden schaffen, also über hohe Preise, dann wird rationiert werden. Wer also nach Preisnachlässen ruft, sollte wissen, was er dafür bekommt. Wenn diese Nachlässe zu einer erhöhten Nachfrage führen, wird eine Rationierung wahrscheinlicher.

STANDARD: Wer soll also kein Gas bekommen im Ernstfall?

Wambach: Die Produkte der Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, sind tendenziell leichter zu substituieren durch Importe aus dem Ausland. Vermutlich stehen diese unten auf der Liste einer möglichen Gaszuteilung. In dieser Gruppe ist es dann sinnvoll, dass zunächst die bedient werden, die hierzulande eine hohe Wertschöpfung haben. Diesen Effekt sehen wir übrigens bereits schon jetzt, etwa in der chemischen Industrie. Was geringe Wertschöpfung hat, machen die nicht mehr, ihre Ressourcen stecken sie in Produkte mit hoher Wertschöpfung. Auch in der Automobilindustrie war das in der Chipkrise sehr gut zu beobachten: Daimler stellte hauptsächlich höherwertige Wagen her und hatte ein gutes Jahr.

STANDARD: Gefördert wurde auch nicht zu knapp ...

Wambach: Ja genau. Aber wie gesagt, wir werden um ein Zurückfahren der Produktion in diesem Winter nicht umhinkommen. Das ist aber konzeptionell zu trennen von der klimabedingten Transformation. Hier sollte die Industrie im Land bleiben, aber mittelfristig ohne CO2-Ausstoß produzieren. Da sind noch viele Fragen offen. Ein Beispiel: Der grüne Wasserstoff, die Energie der Zukunft, wird nicht in dem notwendigen Ausmaß in Europa hergestellt werden können, sondern vielfach auch im arabischen Raum, in Afrika. Da ist dann die Frage: Wo erfolgt die Wertschöpfung? Kommt der Wasserstoff zu uns, oder kommen die Produkte zu uns? Diese Transformation ist kein Carbon Leakage, weil ja nicht die Verschmutzung verlagert wird, sondern weil dort die Ressourcen für die Industrie sind, die verarbeitet werden. Aber ob das so kommen wird, ist noch offen. Es werden erst Konzepte für den Transport von Wasserstoff erarbeitet, Pipelines konzipiert. Auch Österreich ist da sehr aktiv involviert. Eins ist klar – die Industrie wird nach der Transformation anders aussehen.

STANDARD: Was darf man sich darunter vorstellen?

Wambach: Die Industrie in Baden-Württemberg beispielsweise, meist Mittelständler, die früher Getriebe oder andere hochspezialisierte Teile für Verbrennermotoren gemacht haben, suchen akribisch nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten. In der Digitalisierung hat man das auch gesehen: Geschäftszweige sind verschwunden und neue entstanden, es entstand sogar mehr Neues, als Altes weggegangen ist. Die Arbeitskräfte müssen auf dieser riesigen Transformation mitgenommen werden. Problematisch ist, dass noch sehr viel Unsicherheit hinsichtlich des politischen Rahmens besteht, der diese Transformation lenken soll: So ist weitgehend Konsens unter Ökonomen, dass man den Klimaschutz über Preise für Verschmutzung in die Marktwirtschaft reinbekommen soll. Aber die Politik merkt jetzt: Hohe Preise für fossile Energien sind richtig schmerzhaft. Das bremst die Pläne für den zweiten Emissionszertifikatehandel, den die EU einführen will; unter anderem Macron ist dagegen, weil Benzin dadurch teurer wird ...

STANDARD: Der französische Präsident fürchtet die Gelbwesten.

Wambach: So ist es. Aber es gibt keine sinnvolle Alternative, fossile Energieträger müssen teurer werden. Nicht so teuer wie aktuell, das ist überschießend, aber teurer als im Normalfall. Die Haushalte müssen allerdings dabei unterstützt werden, mit diesen Preisen umzugehen.

STANDARD: Ein Klimageld von 300 oder 500 Euro pro Einwohner, ist das der richtige Ansatz?

Wambach: Man sollte das Geld nicht mit der Gießkanne verteilen, sondern nur an vulnerable Gruppen und Haushalte.

STANDARD: Im Moment rufen alle nach Staatshilfen für alles und jeden. Da sind wir bald nah am Moral Hazard, es wird quasi jedes Unternehmen aufgefangen.

Wambach: Bei Unternehmen ist die Frage nach der richtigen Förderung noch schwieriger als bei Haushalten. Manche Unternehmen können die Preise erhöhen, andere werden aus dem Markt austreten, manche können die Energie substituieren, es gibt Kurzarbeitshilfe und Liquiditätshilfen. Ich teile die Einschätzung, dass es in der Pandemie die Tendenz zur Überförderung gab. Ein Indikator dafür: Die Insolvenzen sind in der Pandemie zurückgegangen – normalerweise sollten sie in Krisen ansteigen.

STANDARD: Das hieße aber im Umkehrschluss, dass die international tätigen Konzerne gestützt werden, weil sie büßen aufgrund hoher Energiepreise an Wettbewerbsfähigkeit ein?

Wambach: Die internationalen Exporteure mit geringer Wertschöpfung haben derzeit die größten Probleme, weil ihre Waren durch Importe aus dem Ausland ersetzbar sind und sie dadurch nicht viel Spielraum haben, die höheren Kosten weiterzugeben. Auf der anderen Seite ist es gerade bei diesen Produkten einfacher, sie zu substituieren. Wichtig wäre, bei Fördermaßnahmen darauf zu achten, wie hoch ihre nationale Wertschöpfung ist. (Luise Ungerboeck, 28.9.2022)