Großes Kino im Mailänder Stadtteil Brera. Das abgedunkelte Metropol-Theater gesteckt voll, nur die Geräuschkulisse kündigte den Star des Abends an: ein Hubschrauber im Landeanflug, Kameraklicken, "We love you Kim"-Rufe, Blitzlichtflackern. Am Kopfende des Laufstegs erschien, endlich, Kim Kardashian. Erst mal aber nur auf der Leinwand. Der Social-Media-Star, blondiertes Haar, Sonnenbrille, nimmt in einem Ristorante mit kariertem Tischtuch Platz: "Ciao, Kim!" Ein Kellner reicht Spaghetti mit Tomatensauce.

Das Modehaus Dolce & Gabbana tat sich mit Kim Kardashian zusammen
Foto: AP Photo/Antonio Calanni

Während sich Kardashian auf der Leinwand die Gabel in den Mund schob, ging auf dem Laufsteg die Show los. Die 41-Jährige hatte aus dem Archiv von Dolce & Gabbana ihr Best-of herausgesucht. Zufälligerweise erinnerten die Korsagen-Oberteile und Stretch-Outfits – die Originale entstanden zwischen 1987 und 2007 – an ihre eigene Wäschekollektion Skims. Der US-amerikanische Kardashian-Clan wohnte dem Geschehen in der Viale Piave mit Kind und Kegel bei, einen Moment fühlte es sich so an, als sei die Modenschau Teil der Reality-TV-Serie Keeping Up with the Kardashians.

So sah die Zusammenarbeit aus
Foto: Miguel MEDINA / AFP

Wer hätte sich vor einigen Jahren diese Paarung vorstellen können? Noch 2018 hatte Stefano Gabbana, der wiederholt fragwürdige Statements abgab, die Familie als "the most cheap people in the world" bezeichnet. Doch seit das Designerduo die Hochzeit von Kardashian-Spross Kourtney im Sommer in einen gebrandeten Mega-Event verwandelt hat, sind die Verstimmungen der Vergangenheit Schnee von gestern.

Unterhaltungsmaschine

Mit der Kooperation ist den Sizilianern der wohl grellste Marketingschachzug der Mailänder Modewoche gelungen. Er erzählt viel darüber, wie Fashion-Weeks heute funktionieren. Shows müssen mehr denn je vor allem eines: unterhalten.

So demonstrierte der Diesel-Designer Glenn Martens 5000 Zuschauern seinen experimentierfreudigen Umgang mit Denim. Herzstück des Settings: eine gigantische aufblasbare Skulptur, 37 Meter hoch, 49 Meter lang, Guinnessbuch-Rekord!

Das Setting bei Diesel
Foto: AP Photo/Antonio Calanni

Philipp Plein lud anlässlich der Präsentation seiner "Rockstar-Kollektion" Tommy Lee zum Schlagzeugspielen und 2000 Besucher und Besucherinnen zum Sehen und Gesehenwerden ein. Er bewies einmal mehr: Über nietenbesetzte Sneaker und Bikerjacken mag die Modekritik die Nase rümpfen, doch ja, es gibt ein Publikum dafür. Und der Daunenjackenhersteller Moncler feierte sein 70-Jahr-Jubiläum da, wo vor wenigen Wochen noch Giorgia Meloni, die Chefin der ultrarechten Fratelli d’Italia, einen Wahlkampfauftritt hatte: Auf dem Mailänder Domplatz inszenierte die Marke ein gigantisches Tanzspektakel in hellen Outfits. Der schwäbische Anzugspezialist Boss hingegen ließ im Mailänder Velodrom die Muskeln spielen: Motocross-Fahrer heizten in Metallkugeln umher, Naomi Campbell eröffnete die Show in einem grauen Zweiteiler, Rapper Future schloss in einem schwarzen Anzug. Das Casting so divers wie prominent besetzt, von Tiktok-Star Khaby Lame bis Ashley Graham. Die Schwaben vertrauen weiterhin auf das Prinzip "See now buy now", erstmals konnte die Herbstkollektion noch während der Übertragung der Show auf der Videoplattform Tiktok geshoppt werden. Ob das die kreischenden jungen Fans vor dem Velodrom interessierte?

Großes Spektakel bei Boss
Foto: AP Photo/Antonio Calanni

Politik ausgeblendet

Dass am Sonntag die Parlamentswahlen abgehalten wurden, war während der Modewoche weitestgehend ausgeblendet worden, auch wenn prominente Designerinnen wie Donatella Versace angesichts des drohenden Rechtsrucks zuvor auf Instagram appelliert hatten: "Andate a votare", "geht wählen". Es mag ein Zufall sein, dass ihre Marke nicht optimistisch ins Frühjahr 2023 schaute: Gothic-Vibes auf den Laufstegen von Versace und Prada. Dabei haben sich die Unternehmen von Corona mehr als erholt: Bei Prada stieg der Umsatz heuer im ersten Halbjahr um über 20 Prozent, Versace hat seinen in den vergangenen vier Jahren fast verzehnfacht.

Verhangene Blicke bei Prada
Foto: AP Photo/Antonio Calanni

In vielen Kollektionen überwogen die nostalgischen Momente. Bestes Beispiel: Fendi. Der britische Designer Kim Jones hatte eben erst in New York das 25-Jahr-Jubiläum der Baguette-Bag zelebriert, jetzt ließ er sich im Archiv von seinem Vorgänger Karl Lagerfeld inspirieren. Kollektionen aus den Jahren 1996 bis 2002 standen Pate für seine glänzenden Satinkleider, Blumenmuster, Cargo-Elemente, Plateauschuhe. Bei Sportmax saßen Röcke und Hosen auf den Hüften. "Y2K-Fashion", so wird das Aufgreifen von Trends der 2000er-Jahre bezeichnet, war in Mailand omnipräsent.

Für die Kollektion von Fendi standen Entwürfe aus dem hauseigenen Archiv aus den Jahren 1996 bis 2002 Pate.
Foto: APA/AFP/MIGUEL MEDINA
Hüftröcke bei Sportmax
Foto: Giovanni Giannoni/ Sportmax

Darauf abgestimmt: die altersdiversen Model-Casts. Carla Bruni und Naomi Campbell marschierten für Tod’s im Pirelli Hangar Bicocca um eine Turminstallation von Anselm Kiefer, bei Bottega Veneta stahl Kate Moss in Jeans und ledernem Karohemd den Kolleginnen die Show. Dem nicht genug: Paris Hilton, in ihren Zwanzigern als "It-Girl" und Trash-Ikone geschmäht, nahm in einem pinken Minikleid den Laufsteg von Versace ein: Die US-Amerikanerin erfährt mit 41 mehr Sympathie denn je.

Kate Moss modelte für Bottega Veneta...
Foto: AP Photo/Antonio Calanni
...Naomi Campbell für Tod's und...
Foto: Filippo MONTEFORTE / AFP
... Paris Hilton für Versace
Foto: IMAGO/Independent Photo Agency I

Andere schwelgten in kindlichen Erinnerungen: Gucci-Designer Alessandro Michele inszenierte seine Kollektion "Twinsburg" mit 68 Zwillingspaaren, als Hommage an seine Mutter und deren Schwester – und er schmuggelte Gizmo von den Gremlins in die Show, als Plüschtier lugte er aus Handtaschen hervor. Der Österreicher Arthur Arbesser ergänzte seine Modepräsentation in einer Galerie mit Basteleien, Stühle wurden bunt lackiert und Holzstücke mit Wollfäden umwickelt.

Zwillinge bei Gucci
Foto: EPA

Verjüngungskur

Überhaupt unterzogen sich viele in Mailand präsentierende Modehäuser einer Verjüngungskur, ganze vier Designer gaben ihr Debüt: Filippo Grazioli, der zuvor unter Riccardo Tisci bei Burberry gearbeitet hat, trat bei Missoni an. Er führte vor, wie sexy Strickkleider aussehen können. Mit Marco de Vincenzo hat die Marke Etro, die nun mehrheitlich dem Luxuskonzern LVMH gehört, erstmals einen Kreativchef engagiert, der nicht aus der Gründerfamilie stammt.

Marco de Vincenzo zeigte bei Etro seine erste Kollektion.
Foto: AP Photo/Alberto Pezzali

Das Unternehmen Bally richtet sich mit dem Streetwear-Spezialisten Rhuigi Villaseñor neu aus. Und bei Ferragamo soll es der 27-jährige Maximilian Davis richten. Ein Anfang ist gemacht: Der Schriftzug der Florentiner Marke wurde um den Vornamen von Firmengründer Salvatore gekürzt. (Anne Feldkamp, 27.9.2022)