Mit Giorgia Meloni wird eine Politikerin ein Kernland der EU regieren, die ein dezidiert anti-europäisches Programm verfolgt. Melonis Rechtsbündnis wird zwar weder aus der Eurozone noch aus der Union austreten, aber ebenso wie Ungarn und Polen gemeinsame EU-Maßnahmen im Kleinen hintertreiben und im Großen das Konzept der europäischen Integration attackieren, allen voran den Vorrang des EU-Rechts vor nationalen Verfassungen.

Proeuropäische Kreise verurteilen diese Politik meist als dumpfen Rechtspopulismus. Aber das Wahlergebnis in Italien zeigt wie schon zuvor das starke Abschneiden von Marine Le Pen in Frankreich, der Aufstieg von Vox in Spanien und die Kandidatur von vier EU-feindlichen Präsidentschaftsanwärtern in Österreich: Antieuropäischer Nationalismus ist populär. In vielen Ländern teilt mehr als ein Drittel der Wählerschaft diese Haltung, darunter auch zahlreiche Unternehmer, Anwältinnen, Wissenschafter und andere Vertreter der Elite. Der Sprung zur Mehrheit wie beim Brexit-Votum in Großbritannien ist dann nicht mehr weit.

Giorgia Melonis Rechtsbündnis wird zwar weder aus der Eurozone noch aus der Union austreten, aber gemeinsame EU-Maßnahmen hintertreiben und das Konzept der europäischen Integration attackieren.
Foto: AP/Domenico Stinellis

Es ist daher an der Zeit, diese politische Bewegung nicht nur zu verdammen, sondern sich mit ihr ernsthaft und sachlich auseinanderzusetzen. Das ist nicht leicht. Ihre Vertreter appellieren meist an nationale Identität und andere Gefühle. Sie spielen mit Ressentiments und wettern gegen einzelne echte oder angebliche Missstände in der EU, ohne konkrete Alternativen anzubieten. Aber gerade diese muss man von ihnen einfordern.

Europäischer Superstaat

Sie wollen die EU nicht verlassen, heißt es meist, sondern sie wehren sich gegen einen europäischen Superstaat. Oft wird Charles de Gaulles "Europa der Vaterländer" als Ideal beschworen. Aber als der große Franzose diesen Begriff 1960 prägte, stand die europäische Integration erst am Anfang. Seither wurde die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten Schritt für Schritt – mit einstimmigen Beschlüssen – eingeschränkt.

Für eine EU ohne supranationale Prinzipien müssten nicht nur die Währungsunion und der Lissabon-Vertrag, sondern auch der gesamte Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten beseitigt werden. Dann hätte zwar jeder Staat mehr Spielraum, seine eigene Politik ohne Rücksicht auf andere zu gestalten. Das ist oft befriedigender als die mühsamen Kompromisse aus Brüssel, bei denen alle Seiten Abstriche machen müssen.

Aber was nationale Alleingänge für den Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger bedeuten, erleben gerade die Briten. Es gibt im 21. Jahrhundert kaum ein Themenfeld, das Staaten allein erfolgreich bewältigen können – sei es Pandemien, Klimakrise, Migration, Kriminalität oder die jetzige Energiekrise. Der Raum für Subsidiarität, bei der Probleme auf einer möglichst niedrigen Ebene gelöst werden sollen, wird immer kleiner. Wenn Staaten gegeneinander und nicht miteinander handeln, ist das Ergebnis meist für alle miserabel. Um die Zukunft des Alten Kontinents zu sichern, braucht es mehr Europa und nicht weniger.

Das wissen auch Meloni, Le Pen, Herbert Kickl und Viktor Orbán. Deshalb gehen sie dieser inhaltlichen Auseinandersetzung so gern aus dem Weg. Das darf man ihnen nicht durchgehen lassen. Es kann nicht sein, dass unter dem Schirm einer verantwortungsvollen EU-Politik deren Feinde ihre verführerischen Süppchen kochen, ohne für die Folgen ihrer Rezepte geradestehen zu müssen. (Eric Frey, 28.9.2022)