Er hat viele, aber nicht allzu aussichtsreiche Konkurrenten: Alexander Van der Bellen ist der große Favorit bei der Bundespräsidentenwahl am 9. Oktober. Über 50 Prozent braucht der Titelverteidiger, um eine Stichwahl zu vermeiden. Die Stimmung mache ihn optimistisch, erzählt Van der Bellen: Trillerpfeifen, wie sie ihn bei den Salzburger Festspielen übertönten, habe er schon lange nicht mehr gehört.

Einst zu russlandfreundlich? Ja, er habe sich in Putin getäuscht, sagt Van der Bellen – doch damit sei er nicht der Einzige.
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STANDARD: Wann mussten Sie zuletzt die Zähne zusammenbeißen?

Van der Bellen: Ich vermeide das derzeit, sonst macht sich mein Zahn rechts unten unangenehm bemerkbar (lacht). Aber Sie spielen auf meinen Ausspruch an, dass man jetzt die Zähne zusammenbeißen müsse. Der bezog sich darauf, dass wir noch nicht genau wissen, was die Energiekrise bringen wird. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir halbwegs gut über den Winter kommen. Aber damit ist die Transformation von Gas und Strom zu den erneuerbaren Energien noch nicht zu Ende.

STANDARD: Sie sagen, es sei nicht Ihre Aufgabe, den allgemeinen Aufregungspegel zu erhöhen. Gleichzeitig haben Sie die Demonstrationen der Gewerkschaft gegen die Teuerung unterstützt, die in erster Linie das Gefühl anfachten, die Regierung tue nichts. Haben Sie sich für eine populistische Aktion einspannen lassen?

Van der Bellen: Nein. Mein Eindruck war eher, die Gewerkschaft wollte den Leuten ein Ventil geben, damit sie sich nicht bedenklichen Bewegungen annähern. Ich äußere mich nicht zu einzelnen Forderungen. Aber dass niemand auf der Strecke bleiben und sich alleingelassen fühlen darf – diese Intention der Gewerkschaft unterstütze ich ausdrücklich.

STANDARD: Nicht geäußert haben Sie sich hingegen zu einer anderen Causa: Das Kanzleramt widersetzt sich der Forderung der Korruptionsstaatsanwaltschaft, für die Ermittlungen in der Inseratenaffäre Daten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herauszugeben. Das hatten wir in ähnlicher Form schon einmal. Wann wird dieser Clinch ein Fall für den Bundespräsidenten?

Van der Bellen: Sie spielen auf das Finanzministerium an, das Akten nicht rechtzeitig an den U-Ausschuss geliefert hatte. Ich musste deshalb im Auftrag des Verfassungsgerichtshofes tätig werden. So weit sind wir im aktuellen Fall noch lange nicht. Ich bin kein Jurist, aber meines Wissens ist es juristisch nicht klar, ob der Auftrag der Staatsanwaltschaft nicht noch präzisiert werden muss.

STANDARD: Das ist die Sichtweise des Kanzleramts. Aber ist es nicht bedenklich, dass eine Behörde mit einer Staatsanwaltschaft aushandeln will, was man herausgeben muss?

Van der Bellen: Das Kanzleramt wird sich das wohl überlegt haben. Jetzt warten wir einmal ab, wer recht behält. Der Gang zum Verfassungsgerichtshof steht ja wieder offen.

"Herr Kickl bemüht sich zumindest sehr, alle möglichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vor den Kopf zu stoßen", richtet der Bundespräsident dem FPÖ-Chef aus.
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STANDARD: Apropos Transparenz: Die FPÖ wärmt gerade auf, dass Ihre Frau vor zwei Jahren in den Aufsichtsrat des Burgtheaters bestellt wurde – und das von Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer, Ihrer ehemaligen Kabinettschefin. Wirkt das nicht tatsächlich unsauber?

Van der Bellen: Warum?

STANDARD: Ein Staatsoberhaupt sollte danach trachten, auch nur jeden Anschein der Freunderlwirtschaft zu vermeiden.

Van der Bellen: Das hat mit Freunderlwirtschaft überhaupt nichts zu tun. Meine Frau setzt sich hier ohne jegliche Bezahlung für Kulturinstitutionen in Österreich ein. Ich verstehe die Frage nicht. Will man auf Zuruf der FPÖ der Frau des Bundespräsidenten jegliche Tätigkeit verbieten? Sogar ehrenamtliche?

STANDARD: Das nicht. Aber es handelt sich um eine Kontrollfunktion im Dienste des Staates.

Van der Bellen: Und dieser kommt sie mit anderen höchst qualifizierten Aufsichtsratsmitgliedern nach. Ich sehe da kein Problem.

STANDARD: Zuletzt wurden Sie sehr oft auf Herbert Kickl angesprochen. Sie sagen, als Innenminister sei er eine große Belastung gewesen. Aber würden Sie ihn noch einmal angeloben?

Van der Bellen: Das ist eine sehr hypothetische Frage. Denn er steht derzeit für überhaupt kein Ministeramt zur Wahl. Ohne aus meinem Herzen eine Mördergrube zu machen, würde ich es wie die Engländer formulieren: I’ll cross that bridge when I come to it.

STANDARD: Und was ist mit Ihrem Konkurrenten Walter Rosenkranz, mit dem Sie im Wahlkampf nicht einmal diskutieren wollen?

Van der Bellen: Sie können mich auch fragen, ob ich Herrn Müller aus Hintertupfing angeloben würde. Diese Frage stellt sich erst, wenn eine Regierungsbildung im Gange ist.

STANDARD: Anders als Herr Müller steht Rosenkranz aber für eine politische Haltung.

Van der Bellen: Der Bundespräsident ist nicht dazu da, für tägliche Schlagzeilen zu sorgen. Deswegen bemühe ich mich, in solchen Fällen diskret vorzugehen und das im Vorfeld zu besprechen. Bei der Regierungsbildung von Türkis-Blau habe ich zum Beispiel signalisiert, dass Johann Gudenus für mich als Innenminister nicht infrage kommt.

STANDARD: Glauben Sie, dass die FPÖ ohnehin aus dem Spiel ist, weil niemand mit ihr koaliert?

Van der Bellen: Herr Kickl bemüht sich zumindest sehr, alle möglichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vor den Kopf zu stoßen. Jedenfalls ist das aber eine Frage für das Parlament. Und ich bin kein Prophet.

"Es war ein Fehler, die Gasversorgung auf einen Lieferanten abzustellen. Ein solches Monopol dürfen wir nicht noch einmal zulassen", sagt Alexander Van der Bellen.
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STANDARD: Gibt es etwas, das Sie anders machen würden, wenn Sie Ihre bisherigen sechs Jahre als Präsident wiederholen könnten?

Van der Bellen: Wahrscheinlich, aber da müsste ich erst scharf nachdenken. Als Erstes fallen mir die Krisensituationen ein, und da bin ich mir keines großen Fehlers bewusst. Sagen Sie mir ein Beispiel!

STANDARD: Uns fällt Ihre freundliche Russland-Politik ein. Experte Gerhard Mangott attestiert Ihnen, noch 2019 "ein nützlicher Idiot" Wladimir Putins gewesen zu sein. Wie konnten Sie sich so täuschen?

Van der Bellen: Mangotts Wortwahl kommentiere ich nicht, aber ja: Ich habe mich in Putin getäuscht. Mein letztes Treffen mit dem russischen Präsidenten fand im Mai 2019 statt, ich wurde in Moskau äußerst höflich und gastfreundlich empfangen. Ich habe absolut nicht damit gerechnet, dass Putin die Ukraine als russische Provinz sieht und mit sämtlichen internationalen Regeln bricht, um einen grausamen Angriffskrieg zu führen. Aber kennen Sie jemand anderen, der damit gerechnet hat?

STANDARD: Hätte die Besetzung der Krim 2014 – nach der Sie immer noch keine Vertrauenskrise Europas mit Russland sahen – nicht längst zu denken geben müssen?

Van der Bellen: Aus der heutigen Sicht ja. Aber damals war für mich nicht zu erkennen, dass Putin nicht nur oft die glatte Unwahrheit gesagt hat, sondern auch einem Denken anhängt, das im 21. Jahrhundert nicht nachvollziehbar ist. Er sieht sich in der Rolle von Peter dem Großen und hat keine Skrupel, schlecht ausgebildete Soldaten in einen Krieg zu senden, den niemand gewinnen kann. Das lässt eine Aussicht auf einen nahen Frieden leider so unwahrscheinlich erscheinen.

STANDARD: Ziehen Sie daraus Lehren für den Umgang mit anderen problematischen Staaten?

Van der Bellen: Wir bemühen uns als Republik, freundliche Beziehungen zu allen Staaten dieser Welt aufrechtzuerhalten. Aber natürlich zeigt dieser Krieg: Es war ein über Jahrzehnte gewachsener Fehler, die Gasversorgung Österreichs auf einen einzigen Lieferanten abzustellen. Ein solches Monopol dürfen wir nicht noch einmal zulassen. Österreich muss energieunabhängig werden und seine Energie nachhaltig erzeugen.

Van der Bellen hat für das Gespräch den Newsroom des STANDARD besucht. In der Hofburg führt er keine Wahlkampf-Interviews.

STANDARD: Ein anderes europäisches Problem ist der Wahlsieg der extrem rechten EU-Skeptikerin Giorgia Meloni in Italien. Wird es für Proeuropäer zunehmend ungemütlich?

Van der Bellen: Als liberaler Staatsmann bedauere ich, dass die innenpolitischen Verhältnisse zum Wahlsieg rechtsorientierter Parteien geführt haben. Aber verlässliche Partner in Italien sagen auch, dass Meloni transatlantisch orientiert ist, den Angriffskrieg Russlands stets verurteilt hat und sich hüten wird, auf all die Milliarden an EU-Förderungen zu verzichten, die Italien unter bestimmten Bedingungen abholen kann. Entsprechend wird sie sich hoffentlich in der EU verhalten.

STANDARD: Wenn vor allem die Aussicht auf Geld die EU zusammenhält, ist das aber auch ein trauriges Argument, oder?

Van der Bellen: Ich sehe das optimistischer und würde – fingers crossed – sagen: Gerade in der Krise wächst die EU über die Erwartungen hinaus. Im Fall Russlands war wohl niemand überraschter als Putin selbst, dass Europa als verschworene, geschlossene und entschlossene Einheit reagiert hat.

STANDARD: Wenn Sie nach vorn schauen: Wollen Sie, falls Sie die Wahl gewinnen, die nächsten sechs Jahre irgendwie anders anlegen?

Van der Bellen: In meine Amtszeit sind so viele Krisen gefallen wie in der Zweiten Republik noch nie zuvor. Und ich glaube schon, dass ich das Meinige zur Lösung beitragen konnte. Dadurch gewinnt man Selbstvertrauen. Ich fühle mich reifer für das Amt als je zuvor. (INTERVIEW: Gerald John, Katharina Mittelstaedt, 28.9.2022)