Ein Kämpfer der selbsternannten "Volksrepublik" Donezk bei der Stimmabgabe.

Foto: Reuters / Alexander Ermochenko

Wir haben Angst, dass die Russen wiederkommen, wir alle haben Angst", sagt Olga. Und ihre Freundin Tatiana ergänzt: "Wir haben kein Geld, um wegzufahren. Hier, zu Hause, werden wir überleben – falls wir am Leben bleiben." Die beiden sind über 70, längst in Pension. Sie leben in Isjum, jener zerbombten, zerschossenen Kleinstadt im Gebiet Charkiw, das die russische Armee vor kurzem fluchtartig verlassen hat.

Der Bezirk Charkiw grenzt an die Bezirke Donezk und Luhansk. Dort sind gerade die Referenden zu Ende gegangen. "Scheinreferenden" nennt sie der Westen. Als "Blödsinn" bezeichnet Svitlana aus Isjum die Abstimmungen. Sie arbeitete als Köchin an einer Schule, die völlig zerstört ist. Yuri, der Schlosser, sagt: "Das Ergebnis wird so sein, wie sie es für notwendig halten." Niemand hier will, dass das russische Militär zurückkommt. Niemand will zu Russland gehören. Zu tief sind die Wunden, zu viele Gebäude sind zerstört, zu viele Menschen starben.

Im benachbarten Donezk und Luhansk, wo viele Menschen russischer Abstammung leben, ist das vielleicht anders. Nur: Abstimmungen, bei denen Militärs von Haus zu Haus auf Stimmenfang gehen, sind wenig frei und wenig aussagekräftig.

Angeblich ausreichende Beteiligung

Schon früh kamen Erfolgsmeldungen aus Russland. Im Gebiet Cherson, in der Südukraine, sei die Mindestbeteiligung von 50 Prozent bereits am Montag erreicht worden, erklärte die Vorsitzende der Wahlkommission nach Angaben der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass. Ähnliche Meldungen kamen aus dem Gebiet Saporischschja. Und in Luhansk und Donezk liege die Beteiligung sogar über 70 Prozent, so die Behörden.

Die Abstimmungen begannen am vergangenen Freitag in den vier besetzten Gebieten Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Die Stadt Donezk sei während der laufenden Abstimmung 115-mal von der ukrainischen Armee beschossen worden, teilte Bürgermeister Alexej Kulemsin mit. Und in der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja habe ein Wahllokal wegen massiven Beschusses von ukrainischer Seite an eine andere Stelle verlegt werden müssen, wie die Nachrichtenagentur Tass meldete.

International werden die Abstimmungen nicht anerkannt. UN-Generalsekretär António Guterres hat eine mögliche Annexion der Gebiete als Verletzung des Völkerrechts bezeichnet. Eine Angliederung ukrainischer Gebiete an Russland macht Verhandlungen mit Moskau aus Sicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unmöglich.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow wies die Kritik zurück. Der "Wutausbruch" des Westens sei unbegründet, sagte Lawrow bei der UN-Vollversammlung in New York. Die Bewohner der Regionen nähmen nur "ihr Land mit, in dem ihre Vorfahren seit Hunderten von Jahren leben".

Russland spricht von Erfolgen

Laut Angaben der russischen Nachrichtenagentur Ria vom Dienstagnachmittag sprachen sich in den betroffenen Gebieten jeweils mindestens 96 Prozent für einen Beitritt zu Russland aus. Es wird erwartet, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Gebiete schon am Freitag in die Russische Föderation aufnehmen könnte, ein Beschluss des Parlaments soll kommende Woche folgen.

Das könnte Konsequenzen für die Kämpfe in der Ukraine haben. Putin hatte betont, dass Moskau Attacken der Ukraine auf die Gebiete dann künftig wie Angriffe auf sein eigenes Staatsgebiet behandeln und sich mit allen Mitteln verteidigen werde. Die jüngst in Russland mobilisierten Wehrdienstleistenden könnten dann etwa in den Donbass verlegt werden, quasi zur "Landesverteidigung".

Ein im Krieg zerstörtes Gebäude in Isjum.
Foto: Jo Angerer

Dass all dies die Kämpfe verlängern könnten, denken auch die Menschen in Isjum. "Wir wollen, dass der Krieg schnellstmöglich beendet wird, aber es wird noch lange dauern", befürchtet die 52-jährige Alyona, die als Verkäuferin auf dem Markt arbeitet. Auch die Köchin Svitlana hat Angst. "Unsere Enkelin und ihr Ehemann sind von den Russen erschossen worden. Sie lebten auf der anderen Seite des Flusses. Mitte März, an einem Tag, als es keine Artilleriebeschüsse gab, wollten sie zu ihrer Mutter – meiner Tochter – fahren. Auf dem Weg, kurz vor der Brücke, wurde auf sie geschossen. Der Mann meiner Enkelin starb sofort. Sie am nächsten Tag im Krankenhaus." (Jo Angerer aus Isjum, 27.9.2022)