Im Gastblog zeigt Kurt Tutschek eine Sammlung von unbemerkt angefertigten Fotografien, die den Alltag Oslos am Ende des 19. Jahrhunderts zeigen.
Der norwegische Mathematiker und Geophysiker Fredrik Carl Mülertz Størmer (1874 – 1957) wurde vor allem durch seine Forschungen zum Phänomen der Polarlichter und seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Zahlentheorie bekannt. Weniger verbreitet dürfte die Tatsache sein, dass Størmer auch an Fotografie sehr interessiert war. Daraus resultierte ein Hobby, das ausgesprochen ungewöhnlich war. Er spazierte als Student in den 1890er Jahren mit einer unter der Jacke verborgenen Spionagekamera durch Oslo und fotografierte heimlich Menschen im Alltag.
Norwegens erster Paparazzo fotografierte die Menschen meist genau dann, als sie an ihm vorübergingen und ihn auf der Straße grüßten.
In seinen eigenen Worten: "Ich schlenderte den Carl Johan entlang, suchte mir ein Opfer, grüßte, bekam ein sanftes Lächeln und zog ab. Sechs Bilder auf einmal und dann ging ich nach Hause, um die Platte zu wechseln."
Insgesamt sind etwa 500 dieser Schwarz-Weiß-Fotos erhalten geblieben.
Der Aufnahmesituation geschuldet mitunter ein wenig unscharf, geben sie einen kleinen Einblick in das norwegische Straßenleben gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Die Kamera
Die Kamera, die Carl Størmer verwendete, wurde verdeckt unter der Weste getragen. Das Objektiv ragte aus einem Knopfloch heraus und wirkte für die Passanten wie ein harmloser Knopf an der Jacke. Durch Drehen des Zeigers wurde die runde Platte gedreht und der Verschluss gespannt. Die Belichtung erfolgte durch Drehen einer Schnur. Mit einer der Fotoplatten konnten sechs Bilder aufgenommen werden.
Carl Størmer erwarb seine C.P. Stirn Concealed Vest Spionagekamera im Jahr 1893, als er an der Königlichen Friedrichs-Universität (heute Universität Oslo) Mathematik studierte.
Die Firma brachte das Gerät mit dem griffigen Slogan “No Tourist, Artist or Student, Amateur or Professional, should be without this Camera” erfolgreich unter die am neuartigen Medium Fotografie interessierte Bevölkerung.
Der Charme der Bilder liegt wohl vor allem darin, dass hier Menschen ganz ungekünstelt vor der versteckten Kamera agieren, lachen, den Hut ziehen oder den Regenschirm schwingen. Ein starker Gegensatz zur damals gebräuchlichen Studiofotografie, in denen hauptsächlich ernste Gesichter und steife Posen zu sehen waren. Meinte doch auch der Literat Mark Twain: "Es gibt nichts Vernichtenderes für die Nachwelt als ein albernes, törichtes Lächeln, das für immer festgehalten wird." Mit seinen Bildern durch das Knopfloch bewies Carl Størmer, dass selbst Größen wie Mark Twain durchaus irren können. (Kurt Tutschek, 1.10.2022)
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