Im hitzigen Wortgefecht um die "wahre" Identität von Individuen führt der Faktor Geschlecht seit Jahren einen äußerst emotionalen Tanz auf. Diesen hat der 1979 in Singapur geborene Choreograf und Videokünstler Choy Ka Fai ins Visier genommen und aus seinen Beobachtungen eine Performance mit dem Titel Yishun Is Burning generiert, die das Brut-Theater jetzt zum Auftaktwochenende seiner neuen Spielzeit präsentiert.

In Wien ist Choy bereits bekannt. Erst 2018 hat der heutige Berliner mit seinen Stücken Dance Clinic und UnBearable Darkness sowie der Ausstellung The Wind that Cuts the Body bei Impulstanz Aufmerksamkeit erregt.

Am Eröffnungswochenende tanzt sich Aurora Sun bei Choy Ka Fais "Yishun Is Burning" in eine Ekstase.
Foto: Dajana Lothert

Damals sagte er mit Blick auf seine Clinic: "Als Tanzdoktor suche ich nach Möglichkeiten, Patienten auf der ganzen Welt zu helfen, ein besseres Verständnis und eine bessere Erfahrung des kulturellen Ausdrucks zu schaffen." Das hat er in Wien erstmals 2015 in seinem Ausstellungs- und Performanceprojekt SoftMachine vorgeführt.

Im Brut ist der "Doktor" nun zum "Schamanen" mutiert, der die Brüche der Identität so lange betanzt, bis sie weich werden und die Möglichkeiten der Selbstidentifikation ineinander verfließen. Der Titel Yishun Is Burning, den schon der amerikanische Choreograf Trajal Harrell in seiner Tanzserie Twenty Looks or Paris Is Burning at The Judson Church (2009– 2017) zitierte, spielt auf Jennie Livingstons berühmte Doku Paris Is Burning von 1990 an.

Multikulturelle Voguing-Party

Harrell selbst ist ebenfalls zu Gast. Online auf der Website des Brut wird er beim Streaming von Florian Malzachers Vortrags- und Gesprächsreihe "The Art of Assembly" unter dem Motto "Safe vs. Brave" über Meinungsfreiheit im Theater mitdiskutieren.

Bei Yishun Is Burning tanzt Sun Phittaya Phaefuang alias Aurora Sun ein Solo, das laut Choy zur "multikulturellen Voguing-Tanzparty" wird, die alle Grenzen von Geschlecht, Herkunft und Religion transzendiert. Yishun – benannt nach dem Geschäftsmann Lim Yishun – heißt eine Schlafstadt im Nordosten von Singapur, in der auch die heutige Präsidentin der autoritären Republik, Halimah Yakob, vor ihrer Amtsübernahme 2017 lebte.

Am Saisoneröffnungs-Wochenende tritt an Choys queerer Seite auch die schwedische Konstgruppen Ful auf: mit der partizipativen Performance Baba Karam – through Jamileh and Khordadian, in deren Zentrum ein Film steht. Choy Ka Fai zeigt rituelle Tanzformen, bei denen sich indische und chinesische Gottheiten in Suns ekstatischem Auftritt manifestieren, und die Konstgruppen Ful führt vertiefend in den persischen Tanz Baba Karam ein.

Das queerfeministische Kollektiv widmet diese Arbeit der heute in Kalifornien lebenden persischen Tänzerin und Schauspielerin Fatemeh Sadeghi alias Jamileh (75) sowie dem ebenfalls vor dem iranischen Umsturz 1979 geflohenen Choreografen und Entertainer Mohammad Khordadian (65), dessen Tanzvorbild Jamileh einst war.

Der Iran wechselte Ende der 1970er-Jahre von einer harten Monarchie in eine härtere Theokratie. Dem – wie jeglicher Männerherrschaft – konträr gegenüber steht die Idee einer radikalen Weichheit, wie sie sich durch Claire Lefèvres Performance Full Melt Down zieht.

Empathie und Superkräfte

Sanfte Klänge und weiche Stoffe entziehen die Besucherinnen und Teilnehmer dieser "choreografischen Führung" den Härten unserer Gegenwart. Positionen wie Weichheit, Genderfluidität und Postkolonialismus bestimmen weitgehend das Brut-Programm, dem später Malika Fankhas "multisensorial Performance" Technicolor Dreamz eine auf Synästhesie – die als Superkraft verstanden wird – gerichtete Science-Fiction-Note verleiht.

Der November weht Malika Fankhas "Technicolor Dreamz" ins Brut.
Foto: Tina Kult

Sowohl Lefèvre als auch Fankha und ebenso Choy oder die Konstgruppen Ful leiten den Blick auf eine neue Spur des Utopischen, die zu einer weichen, zarten und sensiblen Welt führen soll, in der Empathie und Emotionalität den Ton angeben.

Auch einige der Figuren in dem Theaterstück On the Other Side of the World der Rumänin Alexandra Badea bauen an Utopien. Die Protagonistin unternimmt eine Reise durch Europa mit besonderen Begegnungen. Das Brut lädt nun zur Begegnung mit der Filmversion dieses Stücks ein.

Um die "Seele der Dinge" schließlich geht es Simon Mayer in seinem Tanzstück Bones & Wires, in dem das Sanft-Utopische ebenfalls mitschwingt. Der Oberösterreicher interessiert sich für die Versprechen von Technologie und Robotik: Wie steht es um die Verhältnisse zwischen Mensch und Maschine oder kollektivem Bewusstsein und – Telepathie?

Tanz mit Geistern

Ihr Gefühl fürs Gespenstische teilt Ingri Fiksdal mit vielen unter uns. Geisterhaft im Wald kam schon die Performance Night Tripper daher, mit der sich die norwegische Choreografin vor zehn Jahren beim Brut-Theater in Wien vorstellte. Seither waren ihre Arbeiten auch in Salzburg und Krems präsent, zuletzt (2019) zeigte sie Diorama für das Brut in der Seestadt Aspern. Nun kommt mit Medium Fiksdals jüngste Heimsuchung in die interimistische Brut-Stätte nordwest. Da macht die spanische Tänzerin Núria Guiu die Wiedergänger historischer Tanzstücke sichtbar, die durch ihren Körper spuken.

"Medium" setzt dem Spuk der Erinnerung einen Anfang.
Foto: Astrid Westvang

Einige dieser Besucher aus der Zone zwischen Vergessen und Unsterblichkeit sind legendär. Etwa Ballette wie Les Sylphides, Giselle oder Jiří Kyliáns Bella Figura respektive Klassiker der Moderne von Isadora Duncan über Mary Wigman bis zu Pina Bausch. Die realsten Gespenster tanzen, wie dieses Medium behauptet, in unseren eigenen Körpern.

Die Wolken sind weiblich

Wer einen Beweis dafür braucht, wie aufschlussreich feministische Forschung in der Wissenschaftsgeschichte ist, könnte sich mit der Biografie von Eunice Foote (1819–1888) beschäftigen. Lange waren die Leistungen der US-amerikanischen Atmosphärenforscherin und Frauenrechtlerin vergessen. Erst ab 2010 wurden sie wieder in Erinnerung gerufen. Footes zukunftsweisende Arbeit "Circumstances Affecting the Heat of the Sun’s Rays" etwa ist – heute auch online – im American Journal of Science and Arts von 1856 nachzulesen.

Zusammen mit der bildenden Künstlerin Claudia Lomoschitz hat sich die in Wien lebende isländische Choreografin Andrea Gunnlaugsdóttir die Entdeckung der Auswirkungen von Kohlendioxid auf die Atmosphärentemperatur als Angelpunkt für ihre gemeinsame Performance Cumulus. Figures of the Elusive. Politics of the Sky gewählt. Die Arbeit ist als Installation und audiovisueller Performance-Spaziergang im Freien angelegt. "Wir wollen den Blick des Publikums zum Himmel lenken", sagt Gunnlaugsdóttir. Dorthin, wo die Wolken ziehen, denn: Je heißer die Erde wird, desto weniger davon werden sich zeigen. So erhält auch der Himmel eine politische Sphäre. (Helmut Ploebst, 28.9.2022)