Die in der Türkei geborene politische Autorin Ece Temelkuran schreibt in ihrem Gastkommentar über Recep Tayyip Erdoğan und seine Politik.

Reden wir nicht darüber", sagte mein Vater vor einigen Wochen auf der griechischen Insel Mytilene. Dort trifft sich jeden Sommer unsere Familie, seit ich die Türkei 2016 verlassen musste. Nach dem Putschversuch wurde das Land zu gefährlich für Leute wie mich. Das Thema, dem mein Vater auswich, waren die bevorstehenden Parlamentswahlen. Sein ganzes Leben lang war er ein politischer Mensch und verpasste nie eine politische Diskussionssendung. Als ich ihn nach seiner Prognose für den Wahlausgang fragte, waren seine abwehrenden Worte nicht auf Desinteresse an der Politik zurückzuführen, sondern vielmehr auf eine einzigartige Erschöpfung, unter der die türkische Bevölkerung seit einiger Zeit leidet. Diese spezifische politische Krankheit kann als "Erwartungsmüdigkeit" bezeichnet werden.

20 Jahre Erdoğan haben die Türkei verändert – von einer Demokratie in ein autoritäres Regime.
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20 Jahre lang, nach jedem diktatorischen Schritt, den Recep Tayyip Erdoğan unternahm, um die türkische Demokratie in eine Tyrannei zu verwandeln, erwarteten viele wie mein Vater, dass etwas passieren würde. Im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Erdoğans war es die Herausforderung durch die Opposition und im zweiten der Rückgang der Zustimmung seiner Anhängerschaft. Beides ist nicht eingetreten, und nach jeder seiner politischen Rücksichtslosigkeiten wurde die Messlatte für das, was er nicht wagen würde, ein bisschen höher gelegt.

Heute würden viele in der Türkei ohne zu zögern sagen, dass Erdoğan tun und lassen kann, was er will, und nichts die Unterstützung seiner Anhängerinnen und Anhänger erschüttern würde – nicht einmal die Wirtschaftskrise, die das Land verschlingt und viele unter die Armutsgrenze treibt. Denn wie schon tausendmal während seiner Herrschaft hat er neues Werbematerial gefunden, um die Begeisterung seiner Basis zu beleben, nämlich "ein weltweiter Führer für den Frieden in der Ukraine zu sein".

Unmögliches Spiel

Seit den ersten Tagen der russischen Invasion in der Ukraine hat sich Erdoğan, fast zu enthusiastisch, für eine politische Rolle selbst nominiert, die nach Meinung vieler Expertinnen und Experten weit über seine politischen Fähigkeiten hinausgeht. Seine Rolle als Vermittler ist "proukrainisch, ohne gegen Russland zu sein", wie Sinan Ülgen, ein ehemaliger türkischer Diplomat und Carnegie Senior Fellow, sagt. In einer derart angespannten politischen Lage ist es ein unmögliches Spiel, aber bisher spielt ihm die Weltpolitik, wie fast jedes Mal in der Vergangenheit, in die Hände.

Wie der malaysische Politiker Anwar Ibrahim vor Jahren sagte, als ich ihn während seines Hausarrests in Kuala Lumpur interviewte: "Was kann man tun? Er ist ein Glückspilz!" Der Gewinn, den er dank seiner "Neutralität" aus beiden Ländern zieht, ist für viele in Europa ärgerlich, aber er hat die Vetokarte für die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands, sodass die EU den Mund hält. Erdoğan ist wohl kein großer Fan des ehemaligen jugoslawischen Führers Tito, dennoch erinnern seine Tanzschritte an die langjährige Politik des sozialistischen Führers, der es schaffte, während des Kalten Krieges beide Pole unter einen Hut zu bringen. Vergessen wir freilich nicht, dass die Beweggründe der beiden Männer etwas unterschiedlich sein könnten, denn Erdoğans Schwiegersohn produziert Drohnen in der Ukraine, und sein politisches Überleben bei den nächsten Wahlen ist eng mit dem Geld verbunden, das der Handel mit Russland in die türkische Wirtschaft fließen lässt.

Leidendes Volk

Wäre die Türkei eine funktionierende Demokratie, Erdoğans geschickte und flinke politische Schachzüge, sowohl international als auch in der Innenpolitik, würden nicht ausreichen, um ihn vor dem politischen Untergang zu bewahren. Doch während seiner Regentschaft gelang es ihm, jeden Pfeiler des politischen Systems zu zerstören, von den Wahlen bis zur Justiz. Daher die Erschöpfung meines Vaters und die "Erwartungsmüdigkeit" der Türkei.

Mein Land wird am 29. Oktober 100 Jahre alt. Einst war es eine mittelmäßige Demokratie, heute ist es ein gänzlich autoritäres Regime. Aber die Frage, wer unter den europäischen Demokratien unschuldig genug ist, um einen Stein zu werfen, ist eine andere, lange Debatte. Was das türkische Volk betrifft, das unter seinem Regime leidet, so ist die entscheidendere Frage, ob es ein Leben geben wird, wenn er wiedergewählt wird. Denn alle wissen, dass Erdoğan sich der Tatsache bewusst ist, dass seine Freiheit und die seiner Familie in Gefahr ist, wenn er nicht der Alleinherrscher des Landes ist. Daher werden die kommenden Wahlen zwischen einem Mann, der um sein Leben kämpft, und einem Land, das um sein Leben kämpft, ausgetragen. Sollen wir sagen, dass wir dieses Mal vielleicht Glück haben, Papa? (Ece Temelkuran, 29.9.2022)