Neil Harbisson ist ein anerkannter Cyborg, dem eine Antenne aus dem Kopf wächst. Mit dieser kann er Farben hören und Satellitendaten empfangen.

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Wenn die Erde bebt, vibriert es auch in Moon Ribas' Füßen. Dann beginnt sie, auf der Bühne zu tanzen. Je heftiger das Erdbeben ist, das gerade irgendwo auf der Welt passiert, desto stärker spürt Ribas die Vibrationen. Verantwortlich dafür ist ein Sensor, den die spanische Künstlerin in ihren Fuß implantieren ließ. Dieser ist mit Online-Seismografen verknüpft, die jedes Erdbeben auf der Welt aufzeichnen – und Vibrationen in ihren Fuß senden. Bei starken Erdbeben tanzt Ribas heftiger auf der Bühne, gibt es kein Beben, steht sie still. Die Technologie ermögliche es ihr, ein "tieferes Verständnis" für die Umwelt zu entwickeln, sagt Ribas.

Rund um die Welt versuchen Forscherinnen und Forscher das menschliche Leben zu verlängern – mit Robotern, Klonen und Gentechnik. Aber wie fortgeschritten und realistisch sind diese Technologien?
DER STANDARD

Die 37-Jährige sieht sich selbst als Transhumanistin. Transhumanisten wollen sich und ihre Mitmenschen durch Technologie und Wissenschaft so weit wie möglich optimieren und dabei auch biologische und geistige Grenzen überwinden. Kleine implantierte Sensoren sind dabei nur der Anfang: Die Ideen reichen von verbesserten Hautzellen, Chipimplantaten im Gehirn, intelligenten Körperstützen bis hin zur Genom-Editierung, um den Menschen noch gesünder zu machen und die Lebenszeit zu verlängern. Gleichzeitig fürchten manche, dass mit dem Transhumanismus ein ungleiches Rennen um die Erschaffung des "perfekten" Menschen losbricht. Wo liegt beim Transhumanismus die Grenze zwischen sinnvoller Optimierung und riskantem Wahn?

Mensch und Maschine verschmelzen

"Beim Transhumanismus geht es darum, dass Mensch und Maschine miteinander verschmelzen", sagt Christopher Coenen, Wissenschafter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie, im STANDARD-Gespräch. Endziel sei, den menschlichen Körper komplett zu überwinden: etwa indem immer mehr Teile des Körpers durch Maschinen ersetzt und eines Tages auch das Gehirn auf einen Computer hochgeladen wird. "Transhumanisten wollen damit letztlich die Unsterblichkeit und die Gottwerdung des Menschen erreichen", sagt Coenen.

Was sich zunächst ziemlich bizarr anhört, basiert zumindest teilweise auf einem uralten Wunsch des Menschen: seine fehlenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Technologie auszugleichen. "Gewissermaßen sind auch Technologien wie das Auto oder das Flugzeug eine Art Prothese für den Menschen, mit der er seine körperlichen Grenzen überwindet", sagt Coenen. Und auch Brillen, Hörgeräte, künstliche Hüften, Kniegelenke oder Beinprothesen könne man im weitesten Sinne als eine Art Transhumanismus bezeichnen.

Irreversible Eingriffe

Der Unterschied sei jedoch, dass Transhumanisten häufig direkt in ihren Körper eingreifen, ohne dass dafür eine medizinische Notwendigkeit besteht, und auf eine Art, die in vielen Fällen irreversibel ist, sagt Coenen. Meist sollen natürliche Fähigkeiten nicht nur ausgeglichen, sondern erweitert werden.

Wie etwa bei Neil Harbisson. Dem spanisch-britisch staatlich anerkannten Cyborg wächst eine Antenne aus dem Hinterkopf, mit der er Farben hören kann. Ein Sensor nimmt dabei eine fokussierte Farbe wahr, wandelt diese in hörbare Frequenzen um und ermöglicht es Harbisson, der seit seiner Geburt farbenblind ist, die Farbe zu interpretieren. Mit der Antenne kann Harbisson aber auch Signale und Daten von Satelliten empfangen – hat also quasi einen zusätzlichen Sinn.

Die spanische Künstlerin Moon Ribas kann mit einem technischen Implantat Erdbeben spüren.
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Manipulation des Erbguts

Noch einen Schritt weiter gehen die sogenannten Biohacker, die gezielt in ihren eigenen Organismus und in ihr eigenes Erbgut eingreifen wollen, um ihre Lebenszeit zu verlängern. Ermöglichen soll das die Gen-Schere Crispr, mit der sich DNA theoretisch an bestimmten Stellen trennen und wieder neu zusammenfügen lässt.

Kaum jemand hat so viel mit Biohacking herumexperimentiert wie Rich Lee. Der US-amerikanische Transhumanist will mithilfe von Crispr ein Gen ausschalten, das in den Zellen das Muskelwachstum kontrolliert. Damit will er die Abnutzung seiner Muskeln reduzieren und länger fit bleiben. Für 150 Euro bestellt er sich im Internet einen Do-it-yourself-Bausatz, bastelt sich in seiner Garage eine Art Bioreaktor und spritzt sich den selbst gemixten Crispr-Wirkstoff in den Arm. Den Selbstversuch inszeniert er per Video im Internet.

Schwere Nebenwirkungen

Dabei warnen Wissenschafterinnen schon seit langem vor den möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen, die Crispr haben könnte. Die Gen-Schere könnte die DNA auch an anderen Stellen durchtrennen und zu bösartigen Tumoren führen. "Die Konsequenzen, die eine Genom-Editierung haben kann, sind noch viel zu wenig bekannt", sagt Gabriele Werner-Felmayer, Biochemikerin an der Medizinischen Universität Innsbruck und Mitglied der Bioethikkommission, zum STANDARD. Solange wir die Risiken neuer Technologien nicht kennen, sei auch eine klinische Prüfung beim Menschen ethisch unverantwortlich. Mögliche medizinische Anwendungen, die derzeit in Entwicklung sind, würden daher auch streng kontrolliert.

Transhumanisten und Biohacker hält das nicht von ihren Versuchen ab. In den USA können sie bis zu einem gewissen Grad auf eigenes Risiko an sich selbst experimentieren und tun dies mit allen möglichen mehr oder weniger invasiven Methoden und ohne langwierige und aufwendige wissenschaftliche Prüfverfahren.

Menschen dürfen sich selbst schaden

Solange Menschen selbstbestimmt sind, das heißt, wissen, was sie tun, unter keinen kognitiven Beeinträchtigungen leiden und nicht von jemandem unter Druck gesetzt werden, dürfen sie sich mit solchen Experimenten auch selbst schaden, sagt Alena Buyx, Medizinethikerin an der TU München und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, im STANDARD-Gespräch. "Wir erlauben schließlich auch den Alkoholkonsum und das Rauchen in der Gesellschaft, also auch selbstschädigendes Verhalten."

Die Frage sei, ab wann andere Menschen zu Schaden kommen. So könne möglicherweise die Entsorgung eines Crispr-Bausatzes im Abfluss ein mögliches Risiko für andere Menschen darstellen. Ohnehin sei es extrem unwahrscheinlich, dass eine Behandlung mit Crispr zu dem von Biohackern gewünschten Effekt führt. Denn eine Anwendung innerhalb des Körpers sei höchst komplex. Insgesamt handle es sich beim Biohacking um ein sehr punktuelles Phänomen, sagt Buyx.

Prominente Anhängerschaft

Nichtsdestotrotz entstehe in der Diskussion zum Teil der Eindruck, alle Menschen würden von derartigen Eingriffen profitieren, sagt Werner-Felmayer. Dadurch werde einerseits ein Markt für angeblich mögliche biotechnologische Selbstoptimierung eröffnet, während gleichzeitig die Weiterentwicklung von Therapieansätzen für bestimmte, unter Umständen relativ kleine Gruppen von Patientinnen und Patienten kaum finanzierbar erscheint.

Denn die Projekte der Transhumanisten sind längst über die kleine Szene der Biohacker und Cyborg-Künstler hinausgewachsen. Zu seinen prominentesten Vertretern zählen heute die Unternehmer der größten US-amerikanischen Tech-Konzerne wie Elon Musk und Bill Gates, die von Visionären wie Raymond Kurzweil inspiriert werden. "Der Transhumanismus ist für sie eine Art Ersatzreligion", sagt Coenen. Die Idee: Der Mensch müsse sich mit Technik verbinden, um in Zukunft mit einer fortschrittlichen künstlichen Intelligenz mithalten zu können oder um neue Gebiete im Weltall zu erschließen.

Technologische Singularität

Laut Raymond Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google, werde die Intelligenz der Maschinen die Intelligenz von uns Menschen schon in den nächsten Jahrzehnten übertreffen. Dann werden wir einen Zeitpunkt der "technologischen Singularität" erleben, bei der künstliche Intelligenz mit der menschlichen Intelligenz verschmilzt. Das Bewusstsein des Menschen werde sich dann vollständig auf Maschinen übertragen lassen und den biologischen Körper überflüssig machen. Für Kurzweil wäre das der Schritt hin zur Unsterblichkeit des menschlichen Geistes.

Mit ähnlich großen Worten imaginiert Tesla-Gründer Elon Musk die Transhumanismus-Zukunft. Sein von seinem Unternehmen vorgestelltes Projekt Neuralink will Menschen eines Tages mit einem Gehirnimplantat vernetzen. Auf diesem Mikrochip sollen sich dann auch Erinnerungen aus dem Gehirn abspeichern und zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt wieder abspielen lassen. Zudem sollen sich auch querschnittgelähmte Menschen mithilfe der Gehirnchips und Maschinen wieder bewegen können.

Neuralink sei zentral für die Zukunft der Menschheit, sagt dessen Entwickler Elon Musk.
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Viel Inszenierung

Neurowissenschafterinnen und Ethikerinnen stellt es bei solchen Prognosen regelmäßig die Haare auf. "Da steckt ganz viel Inszenierung drin", sagt Werner-Felmayer. Das Ziel sei, durch den kreierten Hype den Markt rund um die Produkte anzuheizen. Zudem könnten einige der Technologien auch militärisch oder von autoritären Regierungen zur Manipulation der Bevölkerung missbraucht werden.

Aber könnte der Transhumanismus nichtsdestotrotz einige medizinisch nützliche Technologien hervorbringen? "Bei der sogenannten Hirnstimulation geht tatsächlich schon mehr, als man denkt", sagt Coenen. Mithilfe von Elektroden lassen sich etwa Hirnareale stimulieren und so die Symptome von Parkinson oder auch Depressionen lindern. Auch Versuche bei Querschnittgelähmten, die mittels ihrer Gehirnaktivitäten Geräte bedienen, seien vielversprechend. "Von den Träumen von Elon Musk sind wir in der Realität dennoch noch weit entfernt, schon allein aus regulatorischen Gründen", sagt Coenen.

Genom-Editierung möglich

Was die Gen-Schere Crispr betrifft, hält Medizinethikerin Buyx einen Einsatz beim Menschen auch jenseits medizinischer Ziele eines Tages durchaus im Bereich des Möglichen. Die Expertin erinnert dabei etwa an den Fall des Wissenschafters He Jiankui, der nach eigenen Angaben das Erbgut zweier chinesischer Zwillinge so verändert hatte, dass sie eine Resistenz gegen HIV entwickeln sollten. "Die Technologie ist derzeit aber noch nicht ausgereift, und angesichts wichtiger ethischer Fragen ist sehr fraglich, ob sie für nichtmedizinische Anwendungen je zulässig wäre", sagt Buyx.

Gegenwärtig verbietet die Mehrheit der Länder noch genetische Eingriffe im Embryonalstadium. Während das in Europa wohl auch so bleiben werde, sei eine Lockerung der Regelung in anderen Ländern der Welt in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren nicht ausgeschlossen, sagt Buyx.

Ungleicher Wettbewerb

Eine Optimierung des Menschen sollte jedoch nicht zum Standard werden, sagt Coenen. Einerseits, weil es das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu schützen gelte. Andererseits, weil die Verfügbarkeit derartiger Technologien schnell zu einem ungleichen Wettbewerb führen könnte. Es gebe dann womöglich einen großen sozialen Druck, sich ebenfalls an die Optimierungen anzupassen, um noch mithalten zu können. Jene, die die Veränderungen nicht wollen oder sich diese nicht leisten können, würden womöglich abgehängt.

Zudem fördere der Transhumanismus, wie er von Menschen wie Musk propagiert werde, ein eher egozentrisches Weltbild. "Dieser Transhumanismus ist der Höhepunkt der Vorstellung des sich behauptenden Individuums", sagt Coenen. Dadurch könne man schnell soziale Lösungen vergessen, die mindestens ebenso wichtig seien: anstatt neuer Superprothesen etwa die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum zu fördern oder generell das Miteinander in der Gesellschaft zu stärken.

Ähnlich sieht es auch Werner-Felmayer: Der Transhumanismus berge die Gefahr, auf Möglichkeiten zu vergessen, wie unsere Gesellschaften auf anderen Wegen gesünder und gerechter werden können: etwa durch ein besseres Gesundheitssystem oder einen besseren Schutz der Umwelt.

Mehr Dialog

Wichtig sei der Transhumanismus dennoch, sagt Coenen: nämlich als eine Idee und eine Ideologie, die unser Denken über die Zukunft prägt. Diese Ideen dürfen jedoch nicht nur aus dem Silicon Valley hervorgehen, sondern sollten von möglichst vielen Menschen mitentwickelt und diskutiert werden – besonders von jenen, die durch Prothesen oder andere Hilfsmittel schon tagtäglich mit solchen Technologien leben.

Letztlich gehe es aber auch darum, zu hinterfragen, was Optimierung überhaupt genau bedeutet, sagt Werner-Felmayer. "In welche Richtung wollen wir uns optimieren? Was sind unsere Ideale?" Gewissermaßen habe sich der Mensch immer schon gemeinsam mit den von ihm erfundenen Technologien weiterentwickelt. Es brauche aber auch Akzeptanz dafür, dass Körper nicht unbedingt so funktionieren, wie wir uns das vorstellen. (Jakob Pallinger, 1.10.2022)